3. September 2018, 8:26 Uhr | Lesezeit: 14 Minuten
Zwei Künstler haben in der Schweiz die ersten Null-Sterne-Hotels gebaut: In so einem Hotel schläft man in einem Bett mit Daunendecken und Nachttischlampen unter freiem Himmel, mitten in den Bergen. Morgens bringt einem ein Butler das Frühstück. Was soll das Ganze? Unsere Autorin hat das mal ausprobiert.
Die Schweiz ist auch deshalb ein so faszinierender Urlaubsort, weil das Land alle Klischees bedient, denke ich, als ich unter knallblauem Himmel im Zürcher Zentrum sitze und auf mein Mittagessen warte. Neben mir sitzen die Geschäftsleute in ihren makellosen Hemden und Kostümen und unterhalten sich über die Vorzüge des Schweizer-Daseins. „Ich habe jetzt endlich eine Tiefgarage mit Aufzug“, prahlt ein Brillenträger neben mir in einem Deutsch, das ihn als Landsmann entlarvt. „Das feiere ich schon bei Nieselwetter, dass ich direkt nach dem Aussteigen trocken in mein Haus hochfahren kann.“ Sein Schweizer Kollege ist sichtlich unbeeindruckt. Später werden mir mehrere Ureinwohner erzählen, dass sowas in der Helvetischen Republik keineswegs extravagant, sondern ziemlich normal ist, sobald man zur Mittelschicht gehört. In Berlin ist man eben andere Standards gewohnt.
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„Immobilienbefreites Hotelzimmer“
Mein Reisepartner, Freund und Fotograf Jonas lacht mich liebevoll aus, als ich mich über den Reichtum um uns herum lustig mache. Die vielen hohen Schuhe, das blitzblanke Kopfsteinpflaster, die horrenden Preise. „Denk daran, wohin wir gleich fahren. Auch ziemlich dekadent!“, neckt er mich. Und er hat Recht. In 25 Minuten wird uns die Bahn raus aus Zürich in das bergige Grenzland des Kantons St. Gallen bringen. In der Talschaft Toggenburg werden wir eine Nacht im Zero Real Estate übernachten, einem „immobilienbefreiten Hotelzimmer“, wie die Schöpfer dieses Konzepts, die Zwillingsbrüder und Künstler Frank und Patrik Riklin, es nennen.
Konkret bedeutet das: Wir schlafen in einem luxuriösen Biedermeier-Bett in 1220 Meter Höhe. Alles ist genau wie in einem normalen Hotelzimmer: Nachttischsschränkchen mit Lampen, ein Kopfstück zum Anlehnen, wunderbar weiche Daunenbettwäsche, ein Tisch und zwei Stühle vor dem Fußende. Nur eben keine Wände und kein Dach. Kein Bad, kein Telefon, keine Bibel, keine Menschen um einen herum. Nur ein Bett, das Himmelszelt, die Weiden und die Kalkstein-Gipfel der Alpen.
250 Euro für eine Nacht zu zweit mit Frühstück und Butler
Es gibt drei verschiedene Zero Real Estates, die man in Toggenburg buchen kann: Eines befindet sich relativ nahe beim Hotel, eines etwas weiter höher an einem See, und unseres liegt direkt gegenüber vom Zweitausender Säntis, von dessen Gipfel aus man in sechs Länder blicken kann: die Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Frankreich und Italien. Im Nacken hat man das gewaltige Massiv der Churfirsten-Berge.
Unser „Zimmer“ heißt Burst Suite und ist das abgeschiedenste der drei Betten. Alle drei Schlaflager kosten pro Nacht 250 Euro, Kurtaxe, Willkommensdrink, Fahrt zur Suite, Frühstück und Bedienung durch einen Butler inklusive. Bucht man die Suite zur zweit, zahlt man denselben Preis, also 125 Euro pro Person. Nicht extrem billig, aber bei Weitem nicht teurer als ein normales Zimmer in einem Schweizer Alpenhotel in der Hochsaison.
Es begann mit einem Bett im Bunker
Was wie ein gewagter Touristen-Gag klingt, hat schon vor zehn Jahren als Kunstprojekt begonnen. 2008 erschütterte die Wirtschaftskrise die Welt. Auch vor der Schweiz machte sie nicht Halt und plötzlich gingen zahlreiche Hotels bankrott. Die Künstler beschlossen damals, die schließenden Hotels anzuschreiben, ob sie jeweils ein, zwei Betten aus dem Inventar haben dürften. Die Ausstattung sollte nichts kosten. „Wir haben über das Sterne-System der Hotellerie recherchiert, ein Monopol, das festschreibt, was Luxus ist. Wir haben dann beschlossen, das erste«Null Stern Hotel» der Welt zu gründen. Die „Null“ steht für die Freiheit und die Unabhängigkeit, den eigenen Normen zu entsprechen und somit den Luxus und das Wertesystem neu zu definieren“, erklären die Brüder im TRAVELBOOK-Interview. Die Riklins entwarfen das Ursprungsbett vor 10 Jahren in einem Bunker in Sevelen. Schnell ein paar Schnappschüsse vom Kontrast zwischen King-Size-Bett und der sterilen Kargheit der Schutzanlage, schon war die Sensation geboren.
Tausende auf der Nullstern-Warteliste
Die ganze Welt wollte dort übernachten: „Wir bekamen Anfragen von Japan bis nach Südafrika. Die New York Times schrieb über uns, wir haben überhaupt nicht mit diesem Rummel gerechnet“, erzählt Frank im Interview mit TRAVELBOOK. Sogar der ehemalige 4-Seasons-Hotelier Daniel Charbonnier besuchte die Brüder. Gemeinsam mit ihm entstand die Marke Nullstern – The only star is you, die sich das Dreiergespann in 54 Ländern als Patent schützen ließ. 2010 wurde den Brüdern der Wirbel zu viel. Sie wollten schließlich keine echten Hoteliers sein, sondern die Hotel- und Luxusbranche künstlerisch hinterfragen. Erst nach fünf Jahren Pause installierten die Brüder das Bett erneut, dieses mal im Freien im Appenzeller Land. Die Folge: Ein noch größerer Sturm von Neugierigen stürzte sich auf die wenigen verfügbaren Übernachtungen. Bald hieß es: Das «Null Stern Hotel» ist rein rechnerisch über 60 Jahre lang ausgebucht. Ende 2017 standen über 4.500 Menschen auf der Warteliste.
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Als die Riklins sich zurückziehen wollten, kamen zahlreiche Anfragen aus Schweizer Regionen, die touristisch nicht ausgelastet sind. Ob sie nicht auch für ein paar Monate so ein Bett aufstellen dürften? Ein „Spin-Off“ wurde ins Leben gerufen. Die Lizenz für das Konzept wurde für den Sommer 2018 an die Region Toggenburg „vermietet“. Einzige Bedingung: Im Zero Real Estate müssen die selben Bedingungen herrschen, wie beim Nullsternkonzept, also ein Bett im Freien für einen bezahlbaren Preis, eine Grundausstattung aus Lampen und Kopfstück und ein Butler, der nicht professionell ausgebildet ist, sondern aus der Region kommt. Er muss oben rum ein weißes Hemd, passende Handschuhe und eine schwarze Fliege tragen, untenrum aber seine moderne Arbeitskleidung. „Die Gäste sollen nur mit echten Menschen aus der Region konfrontiert sein, nicht mit programmierten Tourismus-Experten und steifen Profis“, sagen die Brüder.
Ein Butler aus der Gegend
Unser Butler heißt Phillip und trägt eine blaue, mit Farbe bespritzte Handwerkerhose mit Werkzeug in den Taschen. Phillip ist ein Kind der Gegend, im Winter baut er die Schanzen für die Ski-Fahrer und Snowboard-Fahrer. Der Butler-Job ist eine schöne Sommerbeschäftigung für ihn. Er holt uns mit einem weißen Cadillac im Hotel Alpenrose im beschaulichen Ort Wildhaus ab, wo uns das lokale Postauto abgesetzt hat. Davor sind wir mit dem völlig überteuerten Zug knapp zwei Stunden aus Zürich über die Orte Witzikon, Bubikon, Pfäffikon und Schmerikon nach Wildhaus gelangt. Ach dieses Schwiitzerdütsch.
Woher Phillip den flotten Wagen hat, wollen wir wissen? „Der gehört einem Bauern aus dem Tal!“ erzählt er fröhlich, während er uns zwei rosafarbene Blechdosen mit Prosecco in die Hände drückt. Verpflegung für die Fahrt auf die andere Seite des Tals, wo unser Bett uns erwartet.
Und egal wie oft ich mir vor der Reise die Bilder der Burst Suite im Internet angesehen habe, irgendwie haben sie mich nicht auf die Wirklichkeit vorbereitet. Das Zimmer wirkt, als hätte man es mit einem Hubschrauber aus einem Gebäude gerissen und dann unterwegs versehentlich in den Bergen fallen gelassen. Das Weiß der Bettwäsche leuchtet unwirklich neben dem satten Grün der Almwiesen, die kleinen Bauernhöfe im Tal wirken wie Puppenhäuser. Das Bett scheint deplatziert, surreal, luxuriös und gemütlich zugleich.
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Bestimmt friere ich die ganze Nacht wie bescheuert, ist der erste Gedanke nach dem Schock. Phillip beruhigt mich. „Die Decken sind sehr kuschelig, dir wird nicht kalt. Und wenn doch, hast du unter dem Bett in einer Schublade noch mehr Decken. Und wenn es ganz schlimm sein sollte, rennst du hoch zur Hütte und holst das Bettzeug da.“
Die „Hütte“ ist eine Alm, die wie aus einem Heimatfilm wirkt und die als Backup für die Gäste dient, wenn Regen oder ein Gewitter aufzieht und die Plastikplane, mit der man das Bett abdecken kann, nicht mehr reicht, um sich vor Regen und Wind zu schützen. Im Innern der Alpenhütte ist es dunkel und es riecht nach Heu und Vieh. Rot-weiß-karierte Decken auf rustikalen Tischen, eine uralte Küche mit Kupfergeschirr und alter Käserei, ein kleines Bad mit einer Schale und einem Krug Bergwasser zum Waschen und ein Plumpsklo. Der Wohnbereich geht direkt über zu den Ställen.
Noch vor wenigen Tagen haben die Kühe des Bauern, dem die Hütte gehört, hier gestanden. Daher der Gestank. Mein Großstadtgesicht wird mittlerweile von einem hartnäckigen Dauergrinsen überzogen. Es ist seltsam urtümlich hier. Und friedlich. Sobald Phillip uns erklärt hat, dass wir in unseren Nachtschränken einen Erste-Hilfe-Kasten, Regenschirme, Taschenlampen und sogar eine Powerbank für unsere Smart Phones finden, macht er sich davon. Er wird erst wieder zum Frühstück zurückkommen, das man nach Wunsch zwischen sieben Uhr morgens und neun Uhr morgens serviert bekommt. Wir finden neun früh genug. Als der weiße Cadillac um die Ecke biegt, sind wir allein. Man hört nur noch den Wind und die Glocken um die Hälse der in der Ferne grasenden Ziegen. Wir tun, was man in einem normalen Hotelzimmer auch als erstes machen würde: Wir schmeißen uns in voller Kluft aufs Bett.
Kalifornischer Wein in den Alpen
Es ist genauso komfortabel wie ich es mir vorgestellt habe. Mein Kopf versinkt in den riesigen Kissen, während ich so bequem gebettet staunend die Landschaft betrachte. Während zuhause in Berlin nach dem langen Sommer alles staubig, farblos und ausgetrocknet ist, liege ich nun zwischen dem weiten Himmel, der sich in der Abenddämmerung langsam orange und rosa verfärbt und dem munter sprießenden, leicht feuchten Gras der Weide. Direkt gegenüber der einschüchternde Berg, an dem man sich nicht satt sehen kann. Die Luft ist rein. In der Ferne hört man ein Gewitter auf der anderen Seite des Tals toben. Aber wir haben Glück: Laut Phillips professioneller Wetter-App zieht das Unwetter direkt an uns vorbei.
Aus Vorsicht beschließen wir trotzdem, jetzt zu picknicken, bevor uns der potenzielle Regen das vermasselt. Im Hotel haben wir uns das Frühstück für morgen früh individuell zusammenstellen lassen und für heute Abend eine „Vesper“ für stolze 50 Franken (44 Euro) bestellt. Billiger kommt man leider auch nicht weg, wenn man zuvor im Hotel Alpenrose zu Abend isst. Daher ein Tipp: Sich das Abendessen selbst mitbringen. Immerhin haben wir nun einen wunderschönen Picknickkorb voll mit Produkten aus der Region: edles Trockenfleisch, Bergkäse, selbst gebackenes Brot und selbst gemachter Kuchen, Obst und Gemüse, Aufstriche, ein Schokoladenriegel, zwei kleine Flaschen Kräuterschnaps und – von uns dazu bestellt– eine Flasche Wein. Wir wollten im Authentizität-Modus den Schweizer Wein bestellen, den es auf der Karte gab, aber unter vorgehaltener Hand hat uns ein junger Kellner in der Alpenrose davon abgeraten. Wir sollten doch lieber den kalifornischen nehmen, die Schweizer könnten andere Sachen besser als Wein.
Etwas absurd ist es trotzdem, auf unseren Stühlen am Fußende des ohnehin schon absurden Bettes zu sitzen und im Licht der untergehenden Sonne mitten in den Alpen amerikanischen Rotwein zu trinken.
Als die Nacht hereinbricht, geht der Mond so hell auf, dass wir die Lampen an den Seiten des Bettes wieder ausmachen. Dafür finden wir in den Schränken eine Citronellakerze, die die Ameisen und Mücken vertreibt, die davor in unser Bett gekrabbelt sind. Der Regen bleibt fern. Alles weitere Ungeziefer auch, bis auf ein paar hartnäckige Motten, die sich todessehnsüchtig direkt in das Wachs der Kerzen stürzen.
Eine Nacht mit der Milchstraße
Während mir in meinem Wollpullover und Schal über meinem Schlafanzug gerade richtig warm unter der Decke ist, ist es Jonas viel zu heiß. Dafür dämmert er viel schneller weg als ich. Ich möchte nicht einschlafen! Das Panorama ist einfach zu magisch, um die Nacht mit geschlossenen Augen zu verbringen. Außerdem möchte ich mir die Sterne angucken. Aber selbst als meine Augen nach einiger Zeit immer schwerer werden, sehe ich nur einzelne silberne Punkte zwischen den grauen Wolkenteppichen flimmern. Kommt das Gewitter vielleicht doch noch zu uns rüber? Etwas enttäuscht gebe ich mich der Müdigkeit geschlagen und schlafe ein. Als ich ein paar Stunden später wieder erwache ist der Mond hinter uns verschwunden. Dafür ist die Wolkendecke aufgerissen und die ganze Milchstraße funkelt über mir. Sie schlängelt sich wie ein Schweif aus Juwelen über die Berge hinweg und reicht ins Unendliche. So etwas Schönes habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Links von mir schnellt eine Sternschnuppe übers Firmament. Zeit, Jonas zu wecken. „Die Sterne sind da“, rufe ich wie ein begeistertes Kind, während ich ihn sanft hin und her rüttele. Wir starren sie so lange an, bis uns der Schlummer wieder einholt.
Am nächsten Morgen reißt uns die pralle Morgensonne aus dem Schlaf. Vollkommen verwirrt realisiere ich erst das Licht, dann die wieder höchst aktiven Ziegen mit ihrem Glockengeläute und schließlich die Berge. Der Himmel ist völlig klar und wir können bis rüber ins Fürstentum Lichtenstein blicken.
Erschrocken fahren wir hoch, als wir Schritte hören. Wurde einem bei der Buchung der Burst Suite nicht versprochen, dass man mutterseelenallein sein würde?
Morgendliche Besucher
Als wir über unser Kopfstück lugen, sehen wir die ersten Wanderer an uns vorbei stapfen. Sie wirken erstaunlich gefasst, dafür, dass sie gerade an einem Hotelzimmer ohne Wände vorbei marschieren. Das obligatorische „Gruezi!“, geht Ihnen ohne Probleme über die Lippen. Höflich gehen sie weiter und lassen uns, völlig zerzaust und halbnackt, weil wir in der Hitze der Morgensonne die Decken zurückgeschlagen haben, lachend in unserem Bett zurück.
Danach beschließen wir, uns oben an der Hütte mit dem eiskalten, aber erfrischenden Bergwasser zu waschen. Pünktlich um neun kommt Phillip mit unserem Frühstück angeschlendert. Er deckt unseren Tisch mit einem weiteren karierten Tuch, frischem Kaffee und heißer Milch, Brötchen, Hefezöpfe und Croissants (Im Schweizerischen Kipferli) reihen sich in einem Korb auf. Dazu gibt es Joghurt und Früchte, Käse, Salami und Zwetschgen-Konfitüre. Außerdem Orangensaft. Wir frühstücken recht wehmütig vor uns hin. Schließlich ist der Traum bald vorbei.
Als Phillip uns mit dem weißen Cadillac wieder runter ins Tal fährt, will ich wissen ob man das Bett nächste Saison wieder buchen kann. „Wir haben auf jeden Fall Interesse, aber das müssen die Künstler entscheiden!“ Es sei eine tolle Werbung für das Toggenburg gewesen und hätte allen Leuten aus der Gegend großen Spaß gemacht.
Patrik und Frank Riklin finden das Zero Real Estate-Spin-Off ebenfalls ziemlich gelungen. Aber für nächstes Jahr haben sie Größeres vor. „Wir wünschen uns, dass alle 14 Regionen der Schweiz bei dem Projekt mitmachen und ein oder zwei Betten aufstellen. Die ganze Bevölkerung wird dann zum Hotelier und die Schweiz zum Zero Real Estate gekürt.“
Wer also nächsten Sommer eine Chance auf das Bett haben will, der muss regelmäßig die Augen auf machen. Das Zero Real Estate wurde im Juli eröffnet und konnte nur sehr spontan gebucht werden. Das Gute: Wenn alles so läuft, wie die Brüder sich das vorstellen, hat man 2019 wesentlich mehr Betten zu Verfügung.