10. Dezember 2019, 6:57 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Stolberg im Südharz wurde von den TRAVELBOOK-Lesern zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt. Mehr als 5000 Mal wurde für den Ort abgestimmt. Doch was macht ausgerechnet Stolberg so besonders? TRAVELBOOK-Redakteurin Larissa Königs ist hingefahren.
In Stolberg riecht es nach Weihnachten. Nach Zimt, Gewürzen, Backen, Heimeligkeit und vor allem: nach Lebkuchen. Der Duft hängt unter dem dichten Nebel zwischen den alten, schiefen Fachwerkhäusern, die die Pflasterstraßen säumen. Kann es sein, dass wirklich ganze Straßenzüge duften wie in der Weihnachtsbäckerei? „Ja“, sagt Bürgermeister Ulrich Franke. In Stolberg sieht es also nicht nur aus wie im Märchen, es riecht auch so.
Der Geruch kommt vom Friwi-Werk, eine Spezialfabrik für Kekse und Lebkuchen. Franke weiß das natürlich. Er kennt Stolberg in- und auswendig, schließlich ist er hier seit mehreren Jahrzehnten als Bürgermeister tätig. Eigentlich hat er sich vor Jahren schon zur Ruhe gesetzt, doch sein Nachfolger hatte nicht genug Zeit für das Ehrenamt. „Also hab ich es wieder übernommen“, sagt Franke.
Wie viel Spaß ihm dieses Amt bereitet, zeigt sich auch daran, was er in den vergangenen Jahrzehnten erreicht hat. Er trug, besonders nach der Wende, dazu bei, dass Stolberg sich touristisch öffnete. Was das heißt? Zum Beispiel, dass Stolberg 1993 als erste europäische Stadt überhaupt zur „Historischen Europastadt“ erklärt wurde. Heute ist der Tourismus ein fester Bestandteil: In der Stadt gibt es mehr als 900 Betten, mehrere Hotels und pro Jahr kommen circa 300.000 Touristen – und das bei gerade mal ca. 1100 Einwohnern. Stolberg wurde nun von den TRAVELBOOK-Lesern zum schönsten Dorf gewählt – obwohl es eigentlich gar kein Dorf ist.
Mehr als 800 Jahre Geschichte
Tatsächlich besitzt der Ort nämlich seit mehr als 800 Jahren Stadtrechte. Bis auf einen kurzen Zeitraum. 2010 wurde Stolberg nämlich der neuen Einheitsgemeinde Südharz zugewiesen. Für kurze Zeit galt es daraufhin nur noch als Ortsteil. Doch das konnten und wollten die Stolberger nicht auf sich sitzen lassen. Und so kämpften sie sich 2014 das Stadtrecht zurück.
Wieso es trotzdem für sie in Ordnung ist, dass sie nun das schönste Dorf sind? TRAVELBOOK hat sich in dem Ranking ausschließlich auf Orte mit weniger als 2500 Einwohner bezogen und in genau diese Kategorie fällt Stolberg, wo man sich natürlich über die zusätzliche Aufmerksamkeit freut.
Denn im Gegensatz zu berühmten Nachbarn wie Quedlinburg oder Wernigerode ist Stolberg eher unbekannt – trotz der Lebkuchen, die nicht nur hervorragend duften, sondern auch genauso schmecken. Die Lebkuchen, Kekse, Waffeln, Pralinen und Kuchen sind zwar mit dem Qualitätssiegel „Typisch Harz“ ausgezeichnet und werden in die gesamte Region und sogar über die Landesgrenzen hinaus geliefert. Bekannt wurde die Stadt aber durch etwas anderes: ihr Geld.
Das weiß Claudia Hacker von der Tourist-Information Südharz. Sie erzählt, dass Stolberg etwa um 1200 vom Grafen Heinrich, Herr zu Voigtstedt, gegründet wird. Schon wenige Jahre später wurden die ersten eigene Münzen mit dem Wappentier, dem Hirsch, geprägt. Wie die aussahen zeigt das Museum „Alte Münze“ in der Niedergasse. Im Erdgeschoss kann man in der historischen Werkstatt genau nachvollziehen, wie früher Münzen hergestellt und geprägt wurden. „Das ist einzigartig in Deutschland“, sagt Claudia Hacker. Doch nicht nur das Geld, auch der Bergbau und das große Erzvorkommen, das es bis ins 16 Jahrhundert in Stolberg gab, machten die Stadt reich – vor allem die ansässigen Adligen.
Das Schloss Stolberg – Sinnbild für die Stadt?
Wie reich, das zeigt heute noch das Schloss Stolberg. Es liegt auf dem Schlossberg und thront seit mehr als 800 Jahren über der Stadt. Claudia Hacker geht durch den großen Innenhof ins Innere des Schlosses. Dort sieht man heute schöne Stuckdecken, eine romantische, alte Kapelle, in der noch oft Trauungen stattfinden und zahlreiche Kunstfenster, Statuen und Gemälde. Doch all das wäre fast verloren gegangen.
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Bis 1945 war das Schloss der Stammsitz der Fürsten zu Stolberg-Stolberg, die nach Ende des zweiten Weltkriegs jedoch enteignet wurden. Danach ging es hin und her mit dem Schloss: Zunächst wurde es zu einem Ferienheim, stand aber ab 1990 leer. Drei Jahre später kaufte es dann ein Investor. Sein Ziel: Das Schloss sanieren und zu einem Hotel umbauen. Doch der Plan scheiterte, es gab Feuchtigkeitsschäden. Die Folge: Von 1994 bis 2002 stand das Schloss wieder leer, es schien, als würde es nun endgültig verfallen.
Doch dann übernahm die Deutsche Stiftung Denkmalschutz das Bauwerk und begann zu sanieren. Diese Arbeiten sind bis heute nicht abgeschlossen. Viele Bereiche des Schlosses, darunter auch der Innenhof, zeigen noch immer, wie lange es vernachlässigt wurde. Hier bröckelt der Putz noch immer von den Fassaden. Wie an einigen Stellen anderen Stellen in Stolberg.
Denn auch wenn seit Jahrzehnten viele Ressourcen in die Sanierung gesteckt werden, ist noch längst nicht alles so, wie man es gerne in Stolberg hätte. Wenn man die Straßen entlang schlendert, sieht man immer wieder verlassene, leerstehende Häuser. Der Grund: Die gesamte Stadt steht unter Denkmalschutz. Das sorgt zwar für ein einzigartiges und wunderschönes Stadtbild. Es führt andererseits aber dazu, dass man alte Häuser nicht abreißen darf, sondern sie aufwändig sanieren muss. Und Sanierungen sind teuer.
Nicht nur deswegen verlassen viele jungen Stolberger den Ort. Hier gibt es keinen Bahnhof und keinen einzigen Supermarkt. „Das kann im Alltag auch mal anstrengend sein“, sagt Hacker. Doch es gibt auch viel Positives – zum Beispiel die Gemeinschaft.
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Was Stolberg von anderen Orten unterscheidet
In Stolberg hält man zusammen. Das wird sichtbar, wenn zum Beispiel Ulrich Franke zusammen mit anderen Vertretern der Stadt zusammensitzt und darüber diskutiert, welche Gelder Stolberg zustehen und wo diese eingesetzt werden können. Werden die Millionen in Arbeiten an den Straßen gesteckt? Wie steht es mit dem Netzausbau – schließlich rüstet man gerade auf 5G auf? Und werden wir bald Steckdosen für E-Autos brauchen? In diesen Momenten merkt man, wie sehr die Bewohner an ihrem Ort hängen. Auch die, die noch nicht so lange hier leben.
Denn im Gegensatz zu vielen anderen kleineren Städten ist es in Stolberg nicht wichtig, ob man hier geboren wurde, oder wie lange man hier schon lebt. Wer sich für die Stadt einsetzt, der ist Stolberger. Punkt. Das gilt für die Besitzer des Stolberger Theaters „AndersWelt“, die erst vor einigen Jahren herzogen, genauso, wie für den 93-jährigen Stadtführer Reinhold Siebold, der jahrzehntelange das Museum leitete und sich so gut wie kaum ein anderer mit der Historie der Stadt auskennt. Wenn man mit ihm durch die alten Gassen läuft, kann er zu jeder Fassade eine Geschichte erzählen. Er weiß, warum das alte Rathaus keine Treppe hat, welche Ecke so schmal ist, dass es hier mehr als einmal einen Unfall mit einem nicht ortskundigen Reisebusfahrer gegeben hat, und warum einige Häuser krummer sind als andere. Dass Siebold eigentlich gar nicht in Stolberg wohnt, ist nebensächlich. Vielleicht macht genau das Stolberg so besonders.
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Auch als Tourist bekommt man diese Stolberger Gastfreundschaft zu spüren. Ob nun in einem der zahlreichen Hotels und Gaststätten oder im Café oder Restaurant: man wird immer herzlich gegrüßt. Von Overtourism, unter dem viele andere denkmalgeschützte Orte leiden, ist hier keine Spur. Stattdessen freut man sich über jeden Urlauber, der kommt. Und auch wenn man sich von den berühmten Gemeinden in der Umgebung noch einiges abschauen kann, hat Stolberg etwas, das andere nicht haben: Den Geruch von Lebkuchen auf den Straßen.