26. April 2024, 14:40 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Bolognese, Carbonara oder Pizza Margherita – Sie denken jetzt direkt an Klassiker der original italienischen Küche, oder? Dabei gibt es die angeblich gar nicht. Mit dieser Behauptung brüskiert ein (übrigens selbst italienischer) Lebensmittelhistoriker eine ganze Nation. In einem kürzlich erschienen Buch untermauert er sie mit den angeblich wahren Herkünften kulinarischer, scheinbar italienischer Errungenschaften. Unter anderem soll die Idee, Pizza mit Tomatensauce zu backen, gar von einem entfernten Kontinent stammen.
Es ist der Historiker Alberto Grandi, der aktuell den Zorn Italiens auf sich zieht. Er ist den Medien bekannt: Mit dem Begriff „Gastro-Nationalismus“ hat er sich unter Landsleuten bereits unbeliebt gemacht. Damit meint er das starre Festhalten an kulinarischen „Regeln“, die unter anderem verbieten, nach 11 Uhr vormittags Cappuccino zu trinken oder Pastagerichte, die Fisch enthalten, mit Käse zu bestreuen. Damals schockte er zudem mit der Aussage, in die „echte“ Carbonara-Sauce – demnach eine Verbindung der italienischen Esskultur mit der eingeführten Verpflegung US-amerikanischer Soldaten – komme Eipulver (!) statt frischem Eigelb. Nun will Grandi dem Land ein weiteres Küchen-Kulturgut absprechen: die Pizza rossa (wörtlich übersetzt: „rote Pizza“), also die Zugabe von Tomatensauce auf einem Pizzaboden. Auch diese Idee stamme demnach aus den USA.
Tomatensauce auf Pizza – eine Idee aus den USA?
Grandi hat sich zu seinen polarisierenden Ansichten in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ geäußert. Kürzlich erschien zudem sein Buch „La Cucina Italiana Non Esiste“ (übersetzt: „Die italienische Küche gibt es nicht“), eine Zusammenarbeit mit Daniele Soffiati. Mit ihm spricht der Geschichtsforscher auch im Podcast „DOI – Denominazione di Origine Inventata“ über die angeblichen „legendären Ursprünge“ der hochgelobten, original italienischen Küche. Im Buch wird erklärt und belegt, dass viele ikonische Gerichte, „von der Pizza bis zur Pasta, ohne den grundlegenden Beitrag der italienischen Migranten nicht möglich gewesen wären, die aus fernen Ländern mit etwas Geld in der Tasche und Lebensmitteln zurückkehrten“, heißt es dazu in der Beschreibung.
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Was nun speziell die Pizza betrifft: Dass diese irgendwann rot – also mit Tomatensauce belegt – worden ist, sei auf die „italienische Diaspora“ zwischen 1880 und 1920 zurückzuführen. Der Begriff bezeichnet die historische Massenauswanderung von Italienern in verschiedene europäische Länder sowie nach Nord- und Südamerika Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Rund 20 Millionen seien in die USA ausgewandert, und bei ihrer Rückkehr soll die Idee für Pizza rossa quasi importiert worden sein. Tatsächlich stamme die Tomatenpflanze aus Amerika, wie Grandi „La Repubblica“ erklärt, und so auch „die Verwendung von Tomatensauce als Grundlage für unsere Küche“.
Vorher war nur Foccaccia
Glaubt man Grandi, hat es vor der Rückkehr der italienischen Auswanderer die klassische Pizza, wie wir sie heute kennen, nicht gegeben. Man habe demnach runde Focaccia mit verschiedensten Belägen gegessen – aber eben nicht mit Tomatensauce.
Das Ganze leuchtet schon ein. Zumal von verschiedenen italienischen Gerichten bekannt ist, dass sie US-amerikanischen Einfluss haben. Man denke nur an Pasta con Polpette beziehungsweise Nudeln mit Fleischbällchen – in Amerika, wo sie eigentlich herkommen, sind es Spaghetti and Meatballs.
Was sagt ein italienischer Gastronom dazu?
TRAVELBOOK hat bei Marco Trolio, Gastronom aus Frankfurt am Main, nachgefragt. Der erste Impuls des stolzen Italieners: „Die Pizza kommt ursprünglich aus Neapel. Die mit Tomatensauce, auf jeden Fall.“ Doch dann räumt er noch etwas anderes ein. So komme die Pizza bianca – sprich die Variante ohne Tomatensauce – aus dem römischen Reich. Schon damals habe die „Ur-Pizza“ eine runde Form gehabt, „aber es wurde noch keine Tomatensauce verwendet, stattdessen Oliven, Kräuter und Ähnliches.“ So, so…
„Als die Italiener nach Amerika ausgewandert sind“, so Trolio weiter, „haben sie ihre Rezepte mitgenommen und diese dort modernisiert.“ Es scheint also auch seiner Ansicht nach sehr wohl so zu sein, dass die italienische Küche im Ausland geprägt wurde – zumindest von der dort herrschenden Produktvarianz. Die konkrete Weiterentwicklung der Rezepte lag aber ganz klar in italienischer Hand, da ist der Gastronom sich sicher. „Man hat improvisiert, wenn etwa bestimmte Produkte gefehlt haben“, die Rezepte also in gewisser Weise „amerikanisiert“.
Es spricht vieles dafür, dass „Pizza rossa“ aus Italien stammt
Um die Herkunft der Pizza ranken sich in Italien zahlreiche Mythen. Sicher ist, dass die Tomate erst sehr spät – wahrscheinlich mit Columbus aus Amerika – nach Italien gelangt ist. Dort galt sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Nachtschattengewächsen zunächst als giftig. Erst Jahrhunderte später tauchte sie in ersten Rezepten auf. Selbst das berühmte Ragù bolognese wurde noch 1891 ohne Tomate zubereitet. Die kampanische San Marzano wurde gar erst im 20. Jahrhundert industriell kultiviert.
Im Fall der Pizza spricht jedoch vieles dafür, dass rote Varianten mit Tomatensauce schon lange in Italien existierten, bevor die Massenemigration nach Amerika im Jahr 1880 begann. Die älteste Form der Pizza rossa, die neapolitanische Marinara, ist bereits 1734 attestiert. So steht es zumindest in der EU-Verordnung 97/2010, die den Namen „Pizza Napoletana“ schützt. Weitere Dokumente von 1843 (Alexandre Dumas (Vater): Le Corricolo) und 1866 (Francesco de Bourcard: Usi e costumi di Napoli) zeugen ebenfalls von Pizza-Variationen, die mit Tomaten belegt sind.
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Die Küche verändert sich, und das ist doch eigentlich gut so
Zurück zu Alberto Grandi. Auch wenn der es immer wieder tut – originär geht es ihm wohl kaum darum, italienische Küchenpatrioten gegen sich aufzubringen. Viel mehr wolle er darüber aufklären, dass „Identität mit Wurzeln verwechselt“ werde, so der Historiker im Gespräch mit „La Repubblica“. Man schade der angeblichen Identität – wenn auch mit besten Absichten –, wenn man sie in Stein meißele. Denn am Ende bleibe sie starr, man spreche nicht mehr darüber. Und ohnehin, so der Historiker: Wie soll die Geschichte die Qualität legitimieren? „Wir sprechen zu Unrecht von Identität: Die Küche verändert sich ständig.“
Genau das scheinen viele Italiener nicht wahrhaben zu wollen. Oder wohlwollender ausgedrückt: Sie wollen ihre Küche und Tischkultur bewahren. Die hierfür 1953 gegründete „Accademia italiana della cucina“ ist seit 2003 eine staatliche Einrichtung. Wie man auf der Webseite nachlesen kann, setzt die Akademie sich unter anderem dafür ein, „die traditionellen Werte der italienischen Küche, welche die Grundlage für jede konkrete Innovation bilden, besser bekannt zu machen“. Doch auch das Schlagwort „Weiterentwicklung“ fällt hier. Da können neue Erkenntnisse rund um bewährte Rezepte ja eigentlich kein Feindbild sein.