5. Juni 2021, 5:37 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
In rund 400 Jahren hat sich in Ostfriesland eine feste Teekultur entwickelt. Bis zu sechs Teezeiten gehören für viele Ostfriesen zum Alltag. Für eine Teezeremonie braucht es ein Stück Kandis, kupferroten Schwarztee, einen kleinen Löffel Sahne – und Zeit.
Für eine Tasse schwarzen Tee ist in Ostfriesland immer Zeit. Oder besser gesagt: für drei Tassen. Nicht umsonst lautet eines der berühmtesten plattdeutschen Sprichwörter „Dree is Oostfresenrecht“ – was so viel bedeutet wie: Bei einer Teezeremonie werden mindestens drei Tassen unaufgefordert eingeschenkt, das gilt als Ostfriesen-Recht.
„In Ostfriesland kommt man am Tee nicht vorbei“, sagt Matthias Stenger. Das aromatische Heißgetränk sei prägend für die Region im äußersten Nordwesten Deutschlands.
Stenger muss es wissen, denn er ist Direktor der Ostfriesischen Landschaft, einem Regionalverband für Kultur und Bildung in Aurich und erste Anlaufstelle für Fragen rund um Ostfriesland. Zudem war er viele Jahre Leiter des Ostfriesischen Teemuseums in Norden.
Enormer Teekonsum
„Teetied“, also Teezeit, erklärt Stenger, sei in Ostfriesland so gut wie immer. „In Ostfriesland strukturiert Tee zu einem guten Teil noch den Tag.“ Meist beginne der Tag mit einer ersten Tasse zum Frühstück und ende damit am Abend. Um 21 Uhr noch einmal eine Kanne Tee aufzusetzen sei durchaus üblich. „Das wirkt für Menschen außerhalb Ostfrieslands völlig irre“, sagt Stenger. Denn mit einem hohen Koffein-Anteil sei Tee eher als anregend bekannt. „Doch bei dem hohen Konsum hat in Ostfriesland eine Gewöhnung stattgefunden, die einen am tiefen Schlaf nicht hindert“, erklärt der Fachmann.
Tatsächlich ist der Teekonsum der Ostfriesen enorm: Pro Kopf trinkt ein Ostfriese nach Angaben des Deutschen Teeverbands im Schnitt etwa 300 Liter Tee im Jahr. Das ist etwa zehn Mal mehr als bei durchschnittlichen Bundesbürgern. Wäre Ostfriesland ein eigener Staat, läge der kleine Landstrich beim weltweiten Pro-Kopf-Verbrauch ganz vorne, erklärt Stenger. Doch warum ist gerade Tee in der Region so beliebt, wo Deutschland doch eigentlich eher als ein Land von Kaffeetrinkern gilt?
Ostfriesische Tee-Kultur ist immaterielles Kulturerbe
Das Geheimnis liegt wohl in der weit zurückreichenden ostfriesischen Teekultur. Seit 2016 ist sie als immaterielles Kulturerbe bei der Unesco anerkannt. Die Anfänge der Teekultur gehen bis in das 17. Jahrhundert zurück. Dass sich in der Region eine eigene Teekultur bildete, führen Experten unter anderem auf die Abgelegenheit der ostfriesischen Halbinsel zurück. „Vor 400 Jahren, als der erste Tee nach Ostfriesland kam, gab es nur wenige Straßen“, erklärt die Leiterin des Bünting Teemuseums in Leer, Celia Hübl. Im Süden erschwerte ein Moorgürtel den Zugang – zu allen übrigen Himmelsrichtungen liegt bis heute die Nordsee.
Daher erreichte 1610 der Tee Ostfriesland auch über den Seeweg. Die Niederländer brachten ihn aus ihren Kolonien in Asien mit. „Tee war mindestens 150 Jahre lang sehr, sehr teuer“, erklärt Henning Priet, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teemuseum die Anfänge. Erst später kam er auch in der breiten Bevölkerung an. „Natürlich hat man den Tee in Ostfriesland damals nicht genauso getrunken wie heute“, sagt Hübl.
Tee-Trinken folgt festem Ritual
Wer heute in den unzähligen Teestuben der Region eine echte „Teetied“ erlebt, weiß, dass Ostfriesen das Teetrinken zelebrieren: In feine, dünnwandige Porzellantassen wird zunächst ein Stück Kandiszucker, der sogenannte Kluntje, gegeben. Der heiße Tee wird dann möglichst neben den Zucker gegossen – schließlich soll der Kluntje nicht sofort zerspringen und möglichst für drei Tassen reichen, erklärt Hübl. Mit einem Löffel wird dann Sahne in den Tee gegeben, die weiße Wolken auf den Tee zaubert. Ostfriesen nennen sie auf Plattdeutsch „Wulkjes“. Der beiliegende Teelöffel ist übrigens nicht zum Umrühren gedacht. Er dient allein dazu, dem Gastgeber anzuzeigen, dass kein Tee mehr gewünscht ist und wird dann in die Tasse gelegt.
Wichtiger als die genaue Abfolge der Regeln sei aber eigentlich die Atmosphäre, erklärt Tee-Experte Priet. „Die Gastfreundschaft, die mit der Teekultur verbunden ist, finden wir viel wichtiger als wenn jemand seinen Kluntje kaputtrührt.“ Teetrinken habe etwas damit zu tun, sich Zeit zu nehmen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Ganz egal ob bei der Arbeit oder zum Nachmittagstee im heimischen Wohnzimmer.
Auf die richtige Mischung kommt es an
Bei einem geben die Ostfriesen dann aber doch noch genau Acht: Sie setzen beim Tee allein auf die „echte ostfriesische Mischung“. Die ist auch fast nur in Ostfriesland erhältlich, denn nur vier Firmen, die auch in Ostfriesland ihren Tee mischen und verpacken, dürfen diesen „echten Ostfriesentee“ nennen. Dazu zählen die Marken Bünting (Leer), Thiele (Emden), Onno Behrends (Norden) und Uwe Rolf (Aurich).
Die Teekultur werde meist in Familien von Generation zu Generation weitergeben und damit oft sogar die Teesorte, erklärt Stenger. Während es früher problematisch gewesen sei, wenn eine Lutheranerin einen Calvinisten heiratete, sei es heute mitunter problematisch, wenn ein Thiele-Haushalt auf einen Bünting-Haushalt treffe, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Da muss man sich dann zusammenraufen.“
Auch interessant: Die besten Tipps für Ostfriesland im Herbst
Kluntje und Meer Was Ostfriesland abseits der Inseln zu bieten hat
Harzer Spezialität Kennen Sie schon den „Wilden Stinker“?
Von Bayern bis Brandenburg Urlaub in Deutschland? Diese Reiseziele lohnen sich
Angebote für Touristen
Auch bei vielen Urlaubern, die nach Ostfriesland kommen, ist die Teekultur gefragt. „Viele möchten natürlich eine echte ostfriesische Teezeremonie erleben“, berichtet Wiebke Leverenz von der Ostfriesland Tourismus GmbH. Beste Gelegenheiten bieten dazu neben den vielen Teestuben auch die Teemuseen in Leer und Norden.
Die Ostfriesische Landschaft arbeitet zudem in einem Projekt daran, die Teekultur als immaterielles Kulturerbe für nachhaltigen Kulturtourismus herauszustellen. „Wie können wir so ein Pfund wie die ostfriesische Teekultur in Wert setzen“, sei dabei die zentrale Frage, sagt Stenger. Darüber will die Landschaft nun auch bei einem Symposium beraten – sicherlich bei einer Tasse echtem Ostfriesentee.