14. September 2020, 6:00 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Viel Natur, wenig Menschen – und keine lange Anreise: Das ist die Erfolgsformel für den Urlaub in Corona-Zeiten. Das Schweizer Kanton Graubünden verkörpert sie in Reinkultur.
Smaragdgrün, türkis, dann wieder eisblau: Nach jedem Meter glitzert der Rhein in anderen Farben. Mal mäandert er gemächlich dahin, mal schäumt er zwischen mächtige Felsbrocken gepresst wild auf. An seinen Ufern ragen Kalksteilwände bis zu 400 Meter in die Höhe. Geschaffen wurde die spektakuläre Rheinschlucht durch den Flimser Bergsturz vor 10.000 Jahren.
„Ist das nicht gewaltig?“, fragt Louis Henderson und gibt gleich selbst die Antwort: „Für mich ist das der Grand Canyon der Schweiz.“ Der wilde Rhein kurz hinter seinem Quellgebiet am Oberalppass ist für ihn Spielplatz und Arbeitsplatz zugleich. Vor zwölf Jahren kam der Engländer in die Surselva-Region westlich von Chur. Seitdem begleitet er als Guide Bootstouren durch die 14 Kilometer lange Rheinschlucht.
„Der obere Teil ab Ilanz ist nur was für Könner. Zwischen Versam und Reichenau gehen wir mit Funyaks aber auch mit Anfängern aufs Wasser“, erklärt Henderson. Die prall aufgeblasenen Gummi-Kajaks liegen weitaus stabiler im Wasser als klassische Wildwasserkajaks. Geschützt mit Helm und Neopren-Anzug schaffen die meisten den Ritt durchs Wildwasser ohne eine unfreiwillige Abkühlung.
Spitzenküche nach dem Flussabenteuer
Startplatz des Abenteuers ist Ilanz, der Geburtsort von Andreas Caminada. Der dunkelhaarige Mann mit grünblauen Augen wie der Rhein ist der Star unter den Schweizer Köchen. Seit 2010 zeichnet ihn der Gourmetführer Guide Michelin mit der Höchstwertung von drei Sternen aus. Damals war Caminada erst 34 Jahre alt. Sein Restaurant Schloss Schauenstein liegt südlich von Chur in Fürstenau.
Es gibt Feinschmecker aus aller Welt, die nur deshalb nach Graubünden pilgern. Caminada brennt in den altehrwürdigen Gemächern ein Feuerwerk für die Sinne ab. Statt Austern serviert Caminada zum Amuse-Bouche lieber seine „Fake Oyster“: einen Steinpilz in einer Art Muschelschale aus Algen mit überwältigenden Umami-Aromen.
Nach dem Abschlag ein Pinot Noir
Wie viele Bündner ist Caminada als Snowboarder nicht nur passionierter Wintersportler, sondern auch leidenschaftlicher Golfer. Vielleicht hat er seine erste Dependance deshalb auch in Bad Ragaz eröffnet. Der Ort bietet nicht nur ein Thermalbad und Kurkliniken, sondern auch einen der besten Golfplätze der Schweiz. „Bad Ragaz spiele ich schon gern“, sagt Caminada.
Bad Ragaz liegt eigentlich schon in St. Gallen, wird von Urlaubern aber oft der bekannteren Ferienregion Graubünden zugeschlagen. Vom Kurbad schaut man ja auch direkt auf die Bündner Herrschaft: „Das ist eines der besten Weinbaugebiete der Schweiz mit erstklassigen Pinot Noirs“, sagt Caminada. Im „Grand Resort Bad Ragaz“ betreibt er sein Igniv, ein Begriff aus Caminadas Muttersprache Rätoromanisch. Igniv heißt Nest – und wie in einem solchen fühlt man sich dort auch. Das Konzept ist locker, trotz der zwei Michelin-Sterne.
Caminadas zweites Igniv befindet sich in St. Moritz, im Hotel „Badrutt’s Palace“, und eröffnet nur im Winter, inzwischen Hauptsaison im Engadin wie fast überall in Graubünden. Vor rund 150 Jahren war das noch anders. Erst 1864 erfand der Hotelier Johannes Badrutt den Wintertourismus, indem er mit seinen englischen Gästen wettete, dass der Winter in St. Moritz genauso schön sei wie der Sommer. So wurde die warme Jahreszeit mit den Jahren zur Nebensaison. Anscheinend brauchte es die Pandemie, um der Welt zu zeigen, wie schön St. Moritz und Graubünden im Sommer sind.
Im Engadin geht es sportlich zu
Zum Kuren kommen nur noch wenige. Das Engadin zieht auf 1800 Metern mit warmen Tagen und kühlen Nächten heute eher Aktivurlauber an. Platz ist in dem weiten Tal genug: Wanderer spazieren rund um die Seen, Bergsteiger erklimmen bis zu 4000 Meter hohe Gipfel. Radfahrer touren entspannt mit E-Bikes, quälen sich mit Rennrädern an den Viadukten der Rhätischen Bahn vorbei über den Albula-Pass. Gleitschirmflieger drehen ihre Runden, während Golfer in Samedan auf dem ältesten Platz der Schweiz abschlagen.
Wenn sich im Herbst die bis hoch auf die grünen Almen hochziehenden Lärchen gelb färben und Schneehauben die imposanten Bergmassive auf beiden Seiten des Tals überziehen, wirkt die Kulisse fast schon kitschig. Die Dichte an Luxushotels, Top-Restaurants, Edelboutiquen und Nobelkarossen macht deutlich, dass das Oberengadin kein billiges Pflaster ist. Das Unterengadin rund um Scuol ist da günstiger.
Scuol ist eines der Tore zum Schweizerischen Nationalpark. 1914 gegründet, ist er der älteste der Alpen. Eine Fläche von der Größe des benachbarten Fürstentums Liechtenstein wird dort sich selbst überlassen. Tiere werden nicht bejagt, Totholz nicht weggeschafft. Die alpine Wildnis ist ein Forschungsobjekt für Wissenschaftler.
Besucher können den Park auf rund 100 Kilometer langen Wegen individuell oder auf Führungen erforschen. Neben Rothirschen und Gämsen zählen Steinböcke zu den häufig anzutreffenden Tieren. Dabei waren sie Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz ausgestorben.
Wo selbst Nietzsche seine Freude hatte
Eine Garantie, eines der Graubündner Wappentiere zu sehen, gibt es nicht. Der Park ist kein Disneyland. Nur auf die Murmeltiere ist fast immer Verlass. Die pfeifenden Nager tummeln sich auch auf den Almen oberhalb von Sils Maria im heute autofreien Val Fex, über das Friedrich Nietzsche einst schrieb: „Im Grunde gefällt mir’s nirgendwo so gut.“ In den 1880er Jahren lebte der Philosoph zeitweise in Sils Maria, seine Unterkunft im Ort ist heute ein Nietzsche-Museum.
Nietzsche wanderte gern ins Val Fex. Restaurants und Almhütten tischen dort deftige Spezialitäten wie Pizzoccheri, Maluns und Capuns auf. Wandert man gestärkt hinunter nach Isola, kann man auf Europas höchstgelegener Linienschiffroute über den Silsersee zurückfahren. Nur ab und zu kreuzen dort Segelschiffe den Weg.
Auf dem benachbarten Silvaplana-See ist mehr los. Dort tummeln sich bei schönem Wetter hunderte Kite- und Windsurfer. Frühmorgens schimmert der Bergsee in denselben Grün- und Blautönen wie der wilde Alpenrhein. Dreht der Malojawind mittags auf, glitzert er im magischen Licht der Alpensüdseite wie Quecksilber.
Die beste Reisezeit für Graubünden
Außerhalb der Wintersaison von Mai bis Oktober. Die Temperaturen variieren je nach Höhenlage. Sie bewegen sich in diesen Monaten im Durchschnitt zwischen Tiefsttemperaturen von 3 bis 11 und Höchsttemperaturen von 14 bis 23 Grad.
Nur zu Fuß oder mit dem Zug erreichbar Alp Grüm – das Schweizer Hotel, das gleichzeitig ein Bahnhof ist
Romantik und Trinkwasserqualität Der Crestasee ist einer der schönsten Seen in der Schweiz
Matterhorn und Mont Blanc betroffen Klimawandel macht Wandern in den Alpen gefährlicher
Anreise nach Graubünden
Bequem und umweltschonend ist die Anreise mit der Bahn. Ab Landquart verkehren die roten Züge der Rhätischen Bahn.