11. März 2024, 18:25 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Brandenburg scheint für viele Berliner ein wenig das zu sein, was für sie auch Spandau als Bezirk ist: Irgendwo am Rand, ganz weit weit, eine Peripherie, über die man schon mal abwertend die Nase rümpft. Dabei gibt es wohl kaum eine vielseitigere Region für Naturliebhaber, wie unser Autor findet. Seit Jahren staunt er darüber, wie ursprünglich und herrlich langsam das Leben so nahe an der Hauptstadt hier oft noch ist. Für TRAVELBOOK nimmt er sie mit zu einem Wochenende in Deutschlands vielleicht meist unterschätztem Bundesland.
Was viele Menschen, die in Berlin leben, wohl als eklatanten Nachteil betrachten würden, war für mich immer schon ein Privileg. Ich spreche von der Entfernung meines Wohnortes in Spandau zum Zentrum der deutschen Mega-Metropole. Seit jeher lebe ich viel näher am Stadtrand, und damit unweit einer Peripherie, die für viele Innenstädter ein Schreckensort aus einem mittelalterlichen Märchenbuch zu sein scheint. Spätestens seit der Kabarettist Rainald Grebe sein legendäres, und zugegeben stellenweise auch sehr lustiges „Brandenburg“-Lied sang, ist das Bundesland bei vielen irgendwie geächtet, gilt als uncool.
Daher ist es für mich als großer Fan von Brandenburg höchste Zeit, hier einmal laut und deutlich zu sagen: Dieser Ruf ist völlig ungerechtfertigt. Nicht nur das, mir erscheint es oft so, als wäre Brandenburg das meist unterschätzte Bundesland in der gesamten Republik. Ich unternehme hier seit Jahren Wanderungen und Radtouren, kann von meinem Seeufer aus sogar rüber schwimmen, und darf Ihnen also aus Erfahrung sagen: Brandenburg unterschätzen bedeutet, gegebenenfalls eine der vielseitigsten und interessantesten Regionen überhaupt hierzulande zu versäumen.
Das Land der 3000 Seen
Es muss ja auch einen Grund geben, warum schon der große Autor Theodor Fontane, geboren im brandenburgischen Neuruppin, seiner Heimat eine Reihe von gleich fünf Bänden widmete. Die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ sind heute Klassiker, und beschreiben auf poetische Weise die Schönheit der Natur, aber auch Orte und Menschen des Bundeslandes. Manche Sehenswürdigkeiten, wie der magisch blaue Stechlinsee, haben sogar ihr ganz eigenes Buch bekommen. Und genau hier würde auch ich ansetzen, um jemandem die Vorzüge von Brandenburg nahezubringen: Das Bundesland hat 3000 Seen. Dreitausend. Laut Webseite der Landesregierung sind zudem 37 Prozent mit Wald bedeckt. Unter anderem warten Paradiese wie der Welterbe-Buchenwald „Grumsiner Forst“ bei Angermünde auf Besucher.
Ich war seit jeher auch fasziniert von den kleinen und noch kleineren Orten, die man in Brandenburg schon mehr oder weniger direkt hinter der Landesgrenze zu Berlin entdecken kann. Orte, in denen man sich auf angenehme Weise in eine andere Zeit zurück versetzt fühlt. Verschlafene Weiler mit Storchennestern auf den Dächern und Vertrauenskassen für frische Landeier und selbstgemachte Marmelade am Kopfsteinpflasterstraßenrand. Wo die Einheimischen noch freundlich grüßen und man mitunter wirklich Überraschendes entdecken kann. So wie den ältesten Flugplatz der Welt im brandenburgischen Stölln. Oder Himmelpfort – das Dorf, in dem der Weihnachtsmann arbeitet.
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Mit Taschengeld renoviert
So oft es eben geht, entkomme ich daher dem Lärm und Trubel Berlins und flüchte in die Ruhe von Brandenburg. Deutschlandticket sei Dank jetzt sogar noch einfacher und öfter. Unlängst verbrachte ich derart sogar mal wieder ein ganzes Wochenende in Deutschlands vielleicht meist unterschätztem Bundesland. Und kam aus dem Staunen und entdecken gar nicht mehr heraus. Die erste Tour führte mich direkt von meiner Haustür aus mit dem Fahrrad in das etwa 30 Kilometer entfernte Nauen. Doch schon beim ersten Halt im beschaulichen Seeburg wäre ich beinahe hängen geblieben. Schuld daran war ein Ort, an dem ich zuvor mindestens schon gefühlte hundert mal einfach vorbei gefahren war.
Am Eingang des Ortes, der in längst vergangenen Zeiten Seheberge hieß, ein kleines Schild am örtlichen Gotteshaus: Kirche offen. Ein schmucker Feldsteinbau mit einem schönen hölzernen Turm – und einer faszinierenden Geschichte. Bereits im 12. Jahrhundert bestehend und im Zweiten Weltkrieg zerbombt, erstrahlt die Kirche seit kurz nach der Jahrtausendwende wieder in altem Glanz. Ein Projekt, für das der Architekt fünf Jahre unentgeltlich arbeitete. Und für das eine Gruppe Seeburger Kinder schon kurz nach Kriegs-Ende ihr Taschengeld zusammenlegte, um es als längst erwachsene Menschen dann für den Neubau zu spenden. Innen heute alles ganz modern, schlichte Bleiglasfenster, Fußbodenheizung, eine kleine Teeküche. Ein Ort, an dem man ein Gespür dafür bekommt, dass außerhalb der hektischen Hauptstadt die Dinge oft Kontinuität haben.
Zwischen Fahrgeschäften und Wildtieren
Weiter geht es über Dallgow-Döberitz und Elstal, wo sich einer der wohl skurrilsten Orte von ganz Brandenburg befindet: „Karls Erdbeerhof“, ein Vergnügungspark für Kinder und ihre zahlungskräftigen Eltern. Eine unglaubliche Gelddruck-Maschine, durchaus auch für Erwachsene unterhaltsam, wie ich von mehreren Besuchen mit befreundeten Paaren und deren Kindern bestätigen kann. Der Parkplatz von „Karls“ stellt den von manchem regionalen Flughafen an Größe bei Weitem in den Schatten. Und er ist quasi immer randvoll mit Gästen nicht nur aus der Berliner Innenstadt, sondern ganz Deutschland. Direkt daneben liegt übrigens einer der Eingänge zur Döberitzer Heide, einem wunderbaren, etwa 5000 Hektar großen Naturschutzgebiet. Auf dem ehemaligen militärischen Übungsgelände leben heute Wisente, Przewalski-Pferde oder Rotwild, und auch der Wolf soll sich hier wieder angesiedelt haben.
Die Fahrt führt auch durch die Ruinen des ehemaligen Olympischen Dorfes von 1936, bevor dann zwischen Wustermark und Nauen endgültig die Einsamkeit beginnt. Auf einer Sandpiste, die mehr Schlaglöcher als Weg ist, holpere ich durch die Natur. In der abendlichen Stimmung hört man außer dem Vogelgezwitscher und dem Trompeten der Kraniche nur das unwirkliche Surren unzähliger Windräder, das mich an den Sound der Laserschwerter aus „Star Wars“ erinnert. Brandenburg pur, hier ist die Strecke über eine weite Distanz auch nicht mehr markiert, so dass eine der goldenen Regeln für Radtouren greift: Fehlt die Ausschilderung, geht es stumpf geradeaus weiter. Und so ist es dann auch, und ich erreiche Nauen, während die Sonne gerade in einem wilden Farbenrausch über dem flachen, unglaublich weiten Land explodiert.
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Privates Fliegermuseum
Mit Lust auf mehr solcher Erlebnisse fahre ich am nächsten Tag mit meiner Freundin per Regio nach Neuruppin. Auf den Spuren Fontanes sozusagen. Die Radtour um den Ruppiner See, dem längsten in ganz Brandenburg, empfiehlt die offizielle Tourismuswebseite jedenfalls als eine der schönsten des Bundeslandes. Tatsächlich geht es fast den ganzen Tag lang über Straßen und Alleen, die so ruhig sind, dass man sich richtig wundert, wenn doch ab und zu mal ein Auto vorbeifährt. Der See, wenn auch nicht ständig in Sicht, scheint doch immer wieder glitzernd durch die Bäume. Und schon beim ersten Stopp im beschaulichen Wustrau dann eine der Begegnungen, die einem wirklich nur abseits großer Orte passieren können.
Während unserer ersten Picknick-Pause hält in Sichtweite ein Truck. Aufgeklebt folgender Schriftzug: „Mit 850 km/h im Privatjet über die Alpen“. Als ich den Fahrzeughalter frage, was es denn damit auf sich habe, antwortet er lachend: „Wenn Sie zwei Minuten Zeit haben, zeige ich es Ihnen.“ Er öffnet das Tor zu seinem Hof, und sogleich fällt das ausrangierte Cockpit einer alten Boeing 747 ins Auge. In der Folge führt uns Jürgen Pankow, so der Name des Mannes, durch eine Art privates Luftfahrtmuseum. Inklusive einem selbstgebauten Flugsimulator, den er in jahrelanger Arbeit selbst gebaut hat. „Mit dem Ding können Sie in Echtzeit in die USA fliegen“, erklärt er stolz. Überall Knöpfe, Schalter und Hebel, drei Flachbildschirme vor dem Cockpit sorgen für ein authentisches Erlebnis.
Honig, Fischbrötchen und Ostereier
Eine alte Anzeigetafel vom Flughafen Schönefeld hat er ebenso adoptiert wie eine Notfallrutsche. Von der sagt er: „Diesen Sommer blase ich die auf und rutsche dann von meinem Haus in den Garten.“ Fast kindlicher Feuereifer für seine Leidenschaft. Am liebsten würden wir gleich einmal mit Pankow abheben, statt weiter zu radeln. Wer das Erlebnis tatsächlich einmal ausprobieren möchte, kann ihn über seine Webseite kontaktieren. Pankow muss dann beim Nachbarn Holz abladen. Wir kommen nicht viel weiter als bis zum Nachbarort Altfriesack, wo die Fischerhütte Pfefferkorn auf Gäste wartet. Eine herrliche Stärkung in Form eines Brötchens mit Räucheraal. Garniert mit dem fast schon gewohnten Lamento der Fischer von Brandenburg, dass sich der Beruf eigentlich kaum noch auszahle.
Umso dankbarer bin ich, dass es solche Orte noch gibt. Genauso wie den Imker in Karwe, der uns direkt vor seiner Haustür zwei herrlich frische Gläser Robinie und Linde verkauft. Eine Perle ist auch der örtliche Schlosspark mit seinem Eierberg. Zu Ostern finden sich hier jedes Jahr Familien ein, um hart gekochte Eier den Hügel herunter „trudeln“ zu lassen. Unterhaltungsprogramm à la Brandenburg, einfach und ehrlich. Gnewikow und Wuthenow fliegen auch noch vorbei, und schon sind wir wieder zurück in Neuruppin. Wer die Brandenburger Natur und Dörfer-Kultur einmal genauer kennen lernen möchte: Hier vorbei führt auch der mehrtägige Fontane-Radweg.
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Das Vermächtnis der Seidenraupen
Der Sonntag ist dann Wandertag, es wird zu Fuß erkundet statt in die Pedale treten. Das Tempo noch einmal verlangsamen, die Augen weiter offen, das Neue, Unbekannte suchend. Und das im Norden Berlins an der Grenze zu Brandenburg. Im sogenannten Tegeler Fließ, das als Teil des mehr als 50 Hektar großen Naturpark Barnim flächenweise unter Naturschutz steht. Teils führen Bohlenstege durch die archaische Auenlandschaft. Die Feuchtwiesen so gesättigt, dass man an einigen Stellen die Schuhe ausziehen und durch Wasser waten muss, wenn man denn weiter laufen will. Die Landschaft ist ein wichtiges Refugium für Tiere aller Art, die mitunter sogar europaweit unter Schutz stehen. In der Ferne ragen die Arkenberge empor. Mit 122 Metern und zum Ortsteil Pankow-Blankenfelde gehörend seit 2015 die höchste Erhebung Berlins.
Das kleine Örtchen Schildow, zu dem man über den Barnimer Dörferweg wandern kann, liegt dann schon in Brandenburg. Direkt an der Grenze wiederum das beschauliche Lübars mit seinen Pferdehöfen und seinem alten Dorfkern. Wiederum an der Dorfkirche begegnet man hier einem Stück Vergangenheit. Einem mehr als 200 Jahre alten Maulbeerbaum, gepflanzt auf Anordnung Friedrich des Großen. Damals wollte er Preußen mit einer eigenen Seidenraupenzucht unabhängig von Importen aus China machen. Da die Raupen nur die Blätter der Weißen Maulbeere fressen, pflanzte man bis 1786 drei Millionen der Bäume in ganz Brandenburg. Nach dem Tod des Regenten im selben Jahr endeten dann die Subventionen für diesen Wirtschaftszweig. Eines der skurrilsten Kapitel der Brandenburger Geschichte war damit beendet. Was bis heute geblieben ist, sind die majestätischen Bäume.
In der Hoffnung, dann noch ein wenig mehr Historie atmen zu können, betrete ich den „Alten Dorfkrug“. Früher diente er auch als Ausspannstation für Pferde, vermutlich auf einer wichtigen Postroute. Dazu können die gestressten Angestellten mir bei Vollbelegung aber leider nichts sagen. Also zurück in die schöne Natur. Vorbei noch am Ziegeleisee und dem Hermsdorfer See, bevor es wieder zurück in die Realität geht. Zum Glück liegt die für mich im geliebten Spandau, wodurch eine schnelle Flucht nach Brandenburg jederzeit möglich ist. Wenn Sie diesen Sommer auch einmal die Neugier treiben sollte, etwas auszuprobieren: viel Spaß im vielleicht meist unterschätzten Bundesland Deutschlands.