18. Dezember 2021, 13:25 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Lange Zeit war das Dorf Shenlongwan in der chinesischen Provinz Shanxi nahezu völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Bis die Bewohner beschlossen, sich selbst eine Straße zu bauen. Was dann passierte, klingt wie ein modernes Märchen.
Im Chinesischen gibt es ein schönes Sprichwort, sehr ähnlich unserem „Der Glaube kann Berge versetzen“. Nur heißt es hier so viel wie „Der dumme alte Mann, der Berge versetzte“. Und wahrscheinlich hätten nicht wenige die Bewohner des Dorfes Shenlongwan in der chinesischen Proving Shanxi tatsächlich für nicht ganz zurechnungsfähig erklärt, hätten diese ihnen von ihrem geradezu irrwitzigen Traum erzählt. Das heißt, bis dieser im Jahr 2000 Realität wurde.
Doch der Reihe nach. Shenlongwan ist ein auch heute noch ziemlich abgelegenes Nest und hat etwa 700 Einwohner. Bis in die 1980er Jahre lebten diese vor allem vom Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen – besonders Birnen und Walnüsse wachsen laut der chinesischen Nachrichtenagentur „Xinhua“ hier gut. Das Problem war nur, diese Produkte zum Markt in der Provinzhauptstadt Changzi zu bekommen. Denn wer die Metropole von Shenlongwan aus erreichen wollte, hatte damals nur zwei Möglichkeiten.
Ein Projekt des puren Willens
Zum einen war da eine mindesten sechs Stunden lange Wanderung über sechs Dörfer und drei Provinzen. Die Alternative war eine hochgefährliche Kletterpartie über einen steilen Bergpass, auf in den Stein gehauenen Stufen. Hier riskierte man schlimmstenfalls sein Leben für ein paar Yuan, die die Ernte einbrachte. Es war im Jahr 1985, als die Einwohner von Shenwanlong beschlossen, dass es so nicht weiter gehen könne.
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Was dann passierte, klingt tatsächlich wie ein modernes Märchen. Eine Straße zur Außenwelt musste her, darüber waren sich die Menschen in Shenwanlong einig. Und weil die Regierung diese nicht bezahlen wollte, bauten die Menschen sie einfach kurzerhand selbst. Wobei, kurzerhand ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Denn für dieses Mammut-Projekt brauchten sie ganze 15 Jahre, wobei sie nur Hämmer und Meißel benutzten, um die Straße dem Berg abzutrotzen.
Die Straße zum Wohlstand
„Wir brauchten diese Straße unbedingt“, so ein Einheimischer zu „Xinhua.“ „Hätte ein Jahr nicht genügt, hätten wir zwei Jahre gebaut. Wären zwei Jahre zu wenig gewesen, hätten wir drei daraus gemacht.“ Dass es am Ende 15 Jahre wurden, damit hatten wohl aber auch die fleißigen Baumeister von Shenlongwan nicht gerechnet.
Genauso wenig mit dem, was dann passierte. Denn Shenlongwan ist seitdem aufgrund seiner ursprünglichen Schönheit zu einer massiven Touristenattraktion geworden. Die Straße mag gerade einmal 1526 Meter lang sein, doch alleine im ersten Halbjahr 2021 brachte sie mehr als 300.000 Besucher in das Dorf. Seit Shenlongwan für jeden problemlos erreichbar ist, sind die Gästezahlen hier förmlich explodiert.
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Ein modernes Märchen
„China Daily“ zufolge kommen diese nicht nur wegen des Dorfes, sondern auch wegen der malerischen Natur, die es umgibt. Der Ort sei besonders bei Künstlern beliebt, unter anderem Kalligrafen, Malern und Fotografen. Und so hat diese kleine Straße einen für China immer noch sehr ungewöhnlichen Wohlstand gebracht. Noch im Jahr 2000 betrug das monatliche Pro-Kopf-Einkommen in Shenlongwan 600 Yuan, umgerechnet etwa 83 Euro. Heute sind es im Schnitt 12.000 Yuan, also mehr als 1600 Euro.
Mittlerweile lebt ein signifikanter Anteil der Bewohner von Shenlongwan daher vom Tourismus. Die isolierte Lage des Dorfes, von allen Seiten von Bergen eingerahmt, ist heute sein großer Trumpf. Oder, wie es ein ehemaliger Lokalpolitiker „Xinhua“ gegenüber ausdrückte: „Die Straße war ein Pfad zum Wohlstand. Aber sie ist auch ein Symbol für den traditionell kämpferischen Geist von uns Chinesen.“ Denn manchmal kann Glaube eben wirklich Berge versetzen. Oder Straßen bauen.