17. Oktober 2022, 12:48 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Ein aktuelles Ranking verrät, welche Flugroute weltweit am meisten frequentiert ist. Auf der Route in Asien starten die Flugzeuge tatsächlich im Minutentakt. Doch ihr Ziel ist keine Metropole wie Hongkong, Tokio oder Peking, sondern die Insel Jeju-do. TRAVELBOOK erklärt, was diesen Ort so besonders macht und welches dunkle Geheimnis sich hinter der Fassade verbirgt.
Die verkehrsreichste Flugroute der Welt wurde bekannt gegeben – und kaum jemand kennt den Zielort. Oder haben sie schon einmal von Jeju-do gehört? Wenn nicht, ist das nicht schlimm, denn immerhin liegt die Insel nicht gerade um die Ecke, sondern in Südkorea. Dort allerdings ist sie so beliebt, dass durchschnittlich 224 Flüge pro Tag von Seoul nach Jeju gehen – das bedeutet, dass pro Stunde mehr als 9 Flüge gehen. Alleine 2021 flogen mehr als 16 Millionen Menschen auf der Strecke. Damit ist die Route laut OAG die weltweit am meisten frequentierte.
Doch es bleibt die Frage: Warum führt ausgerechnet die Strecke von Seoul nach Jeju-do die Liste an und nicht eine Route nach Tokio, Hongkong oder Peking?
Jeju-do – Südkoreas Flitterwochen-Insel
Jeju-do liegt rund 90 Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel und ist die größte Insel Südkoreas. Dabei ist die Insel nicht nur von der Größe vergleichbar mit Mallorca – auch ist sie für Südkoreaner das, was „Malle“ für die Deutschen ist: unglaublich beliebt. Begünstigt durch einen massiven Boom der Wirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren konnten sich viele Südkoreaner erstmals den Luxus einer Reise leisten und erwählten Jeju-do als Ziel. Heute kommen nicht nur viele Familien hier, vor allem steht Jeju als Flitterwochen-Insel hoch im Kurs. Der Hochzeitstourismus ist so ausgeprägt, dass das Eiland mittlerweile auch „Honeymoon Island“ genannt wird, Flitterwochen-Insel. Mindestens eine Attraktion der Insel geht heute auf diesen Spitznamen zurück – der „Loveland Skulpturenpark“, der erotische Skulpturen und verschiedene Liebesstellungen zeigt.
Die Vulkaninsel begeistert abgesehen von diesem skurrilen Park vor allem mit ihrer Natur, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch nahezu unberührt war. Highlights sind der Krater Sunrise Peak, der Schildvulkan Hallasan und viele traumhafte Strände, etwa der Seobin Baeksa.
Doch nur die Wenigsten, die Jeju besuchen, wissen von den Gräueln, die in der Vergangenheit hier passiert sind. Dabei beginnt der Schrecken quasi schon bei der Ankunft, denn direkt unter der Landebahn befindet sich ein Massengrab.
Die grausige Vergangenheit von Jeju-do
Was Ausgrabungen im Jahr 2007 laut der „Washington Post“ zutage förderten, war das Zeugnis eines Dramas, das die koreanische Regierung angeblich für 60 Jahre zu vertuschen versuchte, und über das niemand auch nur zu reden wagte, der an seinem Leben hing. Auf der Insel sprechen die Einheimischen noch heute nur kryptisch von „Jeju 4·3“. Gemeint ist damit der 3. April 1948, der Tag, an dem die Geschichte von Jeju-do mit dem Blut zehntausender Unschuldiger neu geschrieben wurde.
Das Drama beginnt ein Jahr zuvor, als die Südkoreanische Arbeiterpartei zu landesweiten Protesten aufruft, um damit eine Wiedervereinigung des seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges formell getrennten Landes zu erreichen. Auch auf Jeju-do gehen die Menschen auf die Straße. Doch die Ordnungshüter, unter der Schirmherrschaft der USA, welche damals in diesem Teil von Korea als selbsternannte Krisenhelfer intervenieren, eröffnen das Feuer und töten sechs Zivilisten. Unzählige werden gefangen genommen und gefoltert. Am 3. April 1948 stürmen daraufhin frustrierte Bürger überall auf der Insel Polizeistationen, ein Vorfall, welchen der US-Militärgouverneur Major General William F. Dean zum Anlass für einen gnadenlosen „Säuberungsprozess“ nimmt. Dean vermutet, ohne jeglichen Beweis dafür zu haben, dass die Anführer des Aufstandes die bereits damals verhassten Nordkoreaner seien.
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Schätzungsweise 30.000 Tote
In der Folge starben nach heutigen Schätzungen etwa 30.000 Menschen. Laut „Atlas Obscura“ wurden ganze Dörfer ausradiert, alleine zwischen 1948 und 1949 sind es 109. Einige einst zerstörte Dörfer, wie Gonul-dong, kann man auch heute noch besuchen. Militärtribunale verhängen etwa 2500 Todesurteile, nicht selten vollstreckt durch Massenerschießungen. Die Opfer werden in Sammelgräbern wie dem unter der Flughafen-Landebahn verscharrt. Diese grausigen Ereignisse setzen sich auch noch nach Beginn des Koreakrieges fort. 1954 ist ein Zehntel der Inselbevölkerung ausgelöscht, ein Drittel geflohen.
Der Professor Tae-il Kim kommt in einer Analyse zu dem Schluss, dass es auf der Insel mindestens 154 Stellen gibt, an denen Massaker verübt wurden. Ein beeindruckendes Denkmal ist das Baekjoilsonjiji, der „Friedhof der 100 Ahnen“. Auch zahlreiche Höhlen, in denen sich Aufständische und Zivilisten vor der Willkür ihrer Häscher versteckten, kann man heute besichtigen. Doch bis die Weltöffentlichkeit von den Verbrechen erfuhr, sollte es jedoch noch bis 1988 dauern. In diesem Jahr fing Professor Kim an, als junger Reporter Überlebende dieser Zeit zu interviewen, und damit dem Drama um Jeju-do ein Gesicht zu geben. 1992 wurden zudem in einer Höhle die sterblichen Überreste von 11 Menschen gefunden, die damals von Soldaten umgebracht wurden. Am Eingang der Höhle legte man ein Feuer, sodass die Geflüchteten an dem Rauch qualvoll erstickten.
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Dennoch entschuldigte sich die südkoreanische Regierung erst 2003 offiziell für die Verbrechen. Jeju-do war zu diesem Zeitpunkt schon längst ein beliebtes Urlaubsziel. Heute gibt es auf der Insel eine Gedenkstätte, in der die Namen, das Alter und die Herkunfts-Dörfer der identifizierten Opfer verzeichnet sind.
Zum 70. Jahrestag der Massaker gab es noch einmal eine offizielle Entschuldigung des südkoreanischen Präsidenten. Zudem gibt es Bestrebungen, die Überreste der Toten aus dem Massengrab unter der Flughafen-Landebahn zu exhumieren und deren Angehörigen zu überstellen. Damit will man endlich mit der dunklen Vergangenheit von Jeju-do abschließen und sich einer hoffentlich strahlenden Zukunft zuwenden – als Südkoreas liebster Insel für Hochzeitsreisende.