18. April 2021, 15:25 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Die Watteninsel Texel hat eine wilde Seite an der Nordsee und eine zahme am Wattenmeer. Dazwischen wachen 14.000 Schafe über eine Miniaturwelt, an die viele Stammgäste ihr Herz verloren haben.
Die Niederlande sind Corona-Hochrisikogebiet. Wie lange das noch der Fall sein wird, ist nicht abzusehen. Doch schon im Sommer könnte die idyllische Nordsee-Insel Texel ein ideales Urlaubsziel sein – vor allem für Familien. Ein kleines Paradies, das von allem Schlechten verschont bleibt – vielen Menschen ist diese Wunschvorstellung vertraut, nicht zuletzt durch die Kinder- und Jugendliteratur.
So erfindet der geniale Professor Habakuk Tibatong aus der Urmel-Serie von Max Kruse ganz am Ende eine Art Käseglocke, unter der das paradiesische Eiland Titiwu unsichtbar und dem Zugriff der Weltmächte entzogen wird. Die holländische Nordseeinsel Texel ist für viele ihrer Stammgäste ein solches Paradies in der Wirklichkeit: eine bessere Welt im Meer, unbeeinflusst von Moden und Zeiten.
Die Watteninsel über der Nordspitze Hollands hat ihre Fans vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber natürlich nicht nur dort. Man spricht von Texel-Sucht zwischen Essen und Wuppertal. Viele der alljährlich wiederkehrenden Texel-Urlauber kennen die Insel seit Kindertagen. In den 1960er Jahren war sie ihr erstes Ferienziel im Ausland, mittlerweile machen sie hier Urlaub mit ihren Enkeln.
Jedes Frühjahr grüßen auf Texel die Schafe
Wie ein Holzklötzchen wirkt der weiße Turm der Kirche von Hoorn, den man schon von der Autofähre aus erkennt. Texel, eine Spielzeugwelt. Wenn im Frühjahr die vielen Tausend Lämmer auf den Weiden ihre Bocksprünge machen und dazu die Tulpen blühen, wirkt die Insel wie ein Idyll aus dem Bilderbuch.
Es gibt hier mehr Schafe als Menschen, rund 14 000. Fast könnte man glauben, die Schafe würden die Insel beherrschen. Wenn dem so ist, sind es genügsame Herrscher, die sich mit wenig zufrieden geben. Tagein, tagaus, egal ob im Hagel oder bei sengender Hitze, stehen sie draußen und mümmeln ihr Gras. Das Bild ist unverändert seit den 1960er Jahren und vermutlich noch viel länger.
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Selbst im größten Ort auf Texel ist die Welt noch angenehm klein
Auf Texel gibt es alles, was man braucht, nur in Miniatur. So versprüht der größte Ort Den Burg ein Puls beschleunigendes Hauptstadtflair, vor allem montags, wenn dort Markt ist. Dann sind die Plätze unter dem uralten Kastanienbaum auf dem Hauptplatz heiß umkämpft. Wer einen ergattert hat, bestellt „koffie und appelgebak“.
Vom Kirchturm aus blickt man endlos weit über die roten Ziegeldächer der holländischen Häuschen und die dahinter liegenden Äcker und Felder bis zum Saum des Waldes. Dahinter ahnt man das Meer. Die relativ große Waldfläche unterscheidet Texel von anderen Watteninseln und macht den Südwesten der Insel zum landschaftlich abwechslungsreichsten Gebiet.
Am Waldrand liegt auch der Touristen-Hotspot De Koog. In den 1970er Jahren war er noch ein verträumter Ort, in dessen Souvenirläden man getrocknete Seesterne kaufen konnte. Immerhin, die Postkartenständer und Garnelenkescher, mit denen man nie etwas fängt, sind noch da. Aber die grell angestrichenen Restaurants und Bars gab es vor 50 Jahren noch nicht. Das zierliche Kirchlein der reformierten Gemeinde wirkt ein wenig wie eine alte Dame auf einer Teenie-Party. Hier hat, so scheint es, die Außenwelt auf Texel übergegriffen.
Sonst aber ist das vertraute Idyll unangetastet. So viel Zeit, so viel Raum. Eigentlich gibt es nur eine wirkliche Attraktion – das Naturkundemuseum Ecomare mit einer Auffangstation für Seehunde. Im Sommer blinzeln kleine Heuler den Menschen hinter der Brüstung mit ihren großen dunklen Augen entgegen. Man ist sofort versucht, darin Traurigkeit erkennen zu wollen.
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Die Show der Kegelrobben
Anders als in den 1970er und 1980er Jahren, als die Seehundbestände aufgrund der Wasserverschmutzung zusammengeschmolzen waren, kann man die Tiere heute wieder in freier Wildbahn erleben. Vom Hafen Oudeschild an der Wattenmeerseite fahren in der Hauptsaison täglich mehrere Schiffe zu den Robbenbänken – ein sehr reizvoller Ausflug.
An warmen Sommertagen räkeln sich die Seehunde in der Sonne wie übergewichtige Strandurlauber, und die Kegelrobben tauchen neben dem Schiff auf und strecken ihre Nasen aus dem Wasser. Anfassen sollte man sie nicht. „Es sind Raubtiere“, warnt der Kapitän.
Zwischendurch wird ein Stopp auf einer verlassenen Sandbank eingelegt. Dann können die Kinder im Schlick nach Krebsen und Wattwürmern suchen. Handelt es sich bei dem Schiff um einen Kutter, werden auf dem Rückweg schnell noch Garnelen gefangen, und jeder bekommt eine Tüte mit nach Hause.
Im Hafen selbst wimmelt es von – nicht essbaren – Krebsen, die von Kindern auf ebenso einfache wie effektive Art gefangen werden: Sie spießen etwas frittierten Fisch auf eine auseinander gebogene Haarspange, binden einen Faden daran und lassen diese Vorrichtung von der Kaimauer aus ins Wasser sinken. Die Krebse schnappen sofort mit ihren Scheren danach und klammern sich fest, so dass sie mühelos nach oben gezogen werden. Dort landen sie zunächst in einem Eimer und werden dann wieder in die Freiheit entlassen.
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Das gute Gefühl, nichts tun zu müssen
All das macht Texel zum idealen Urlaubsziel für Familien mit Kindern. Gerade der Umstand, dass es hier nicht zu viele Angebote gibt, ist von Vorteil. Man muss nirgendwo hinhetzen, weil man sonst vielleicht noch etwas verpasst. Stattdessen mietet man sich einfach ein paar Fahrräder und fährt auf den knirschenden Muschelpfaden mal hierhin, mal dorthin. Dann stößt man immer wieder auf kleine Entdeckungen. Zum Beispiel das Café Het Turfveld mitten im zerzausten Kiefernwald am Dünenrand. Sehr zu empfehlen: Vanilleeis mit Erdbeeren.
Ein wunderschöner Radweg ist „het Skillepaadje“ vom wichtigsten Ferienort De Koog zum Hafen von Oudeschild. Die unscheinbaren Gräben daneben waren einmal sehr kostbar: Das dort stehende rostbraune Wasser ist besonders eisenhaltig und dadurch sehr lange haltbar. Das machte es im 17. und 18. Jahrhundert begehrt bei der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC). Die mächtigen Dreimaster der ersten Aktiengesellschaft der Geschichte lagen auf der Reede von Texel vor Oudeschild, bevor sie zur Reise ins heutige Indonesien aufbrachen. Nächster Zwischenstopp: Kap der Guten Hoffnung, Südafrika.
Bis dahin musste das eisenhaltige Wasser von Texel den Durst von mehr als 300 Soldaten und Seeleuten löschen. Die Grundbesitzer rund um Oudeschild wurden dadurch reich. Einige schöne Anwesen zeugen noch davon, etwa das Landgut Brakestein, das zurzeit restauriert wird.
Radelnd in die Natur eintauchen
Lohnenswerte Ziele für Radtouren sind auch der Leuchtturm an der Nordspitze der Insel und das Naturgebiet De Slufter. Die Nordsee hat hier den Dünenring durchbrochen und eine Landschaft geschaffen, von der man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie dem Wasser oder dem Land zugehört. Im Juli und August wird der Slufter von blühendem Strandflieder lila gefärbt. Bei Herbststürmen in Verbindung mit Springflut verwandelt sich alles in eine kochende Wasserfläche. Das Gebiet ist wie weite Teile der Insel ein Vogelparadies.
Die Nordseeseite ist die wilde Seite der Insel, die Wattenseite die zahme, zivilisierte, ringsum von Deichen geschützt. Der Fahrradweg führt über die Kuppe des Deichs, sodass man auf der einen Seite über das bei Sonnenschein glitzernde Wattenmeer blickt und auf der anderen Seite über grünen Weiden mit den grasenden Schäflein.
Immer wieder ergeben sich Ansichten wie auf einem Gemälde von Jacob van Ruisdael oder Jan van Goyen: eine Holländermühle, die sich einsam über die Polder erhebt und in einem Gewässer spiegelt. Oder eine der typischen kleinen Scheunen mit abgestumpftem Dach gegen den Wind, der hier immer aus Nordwesten kommt. Sie sehen aus wie kleine Bauernhöfe, die in der Mitte durchgetrennt worden sind.
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Schlechtes Wetter schreckt auf Texel niemanden
Das Allerschönste an Texel ist der endlos lange und breite Strand an der Nordseeseite. Selbst an den heißesten Wochenenden zur Urlaubszeit findet hier jeder sein einsames Plätzchen, man muss nur ein paar Meter weitergehen. Natürlich: Gutes Wetter ist hier nicht garantiert, aber das macht auch nichts. Ein ausgedehntes Islandtief ist keine Hiobsbotschaft für Texel-Urlauber, denn dann funktioniert das Durchpusten am Strand umso zuverlässiger.
Der Wind treibt flirrenden Sand vor sich her, sodass man die Augen zusammenkneift, auf der Zunge liegt ein salziges Aroma. Dazu das ozeanische Tosen des Meeres, durchmischt von schrägen Schreien der Möwen und dem Hochfrequenzpiepen der Austernfischer.
Abends liegen die Wellenbrecher im silbernen Schlick frei, Möwenhorden suchen nach Nahrung. Noch etwas später speisen kinderreiche Familien und hundebegeisterte Paare gemeinsam im Strandrestaurant Paal 17 bei De Koog. Nackte Füße auf Holzplanken, Besteck- und Tellergeklapper, leises Lachen, Gesprächsfetzen.
Nach dem Dessert – die Eltern sitzen noch bei einem Glas Rotwein zusammen – klettert Opa mit den Enkeln zwischen dem Strandhafer auf die Düne. Die angewetzten Fahnen Hollands und der Eisreklamen flattern im Wind. Dahinter rollen, in ewiger Bewegung, die weiß bekrönten Wellen und Wogen.
Im letzten Licht des Abends zieht am Horizont ein Containerschiff vorbei. Es gehört zu der anderen Welt weit da draußen. Texel hat damit nichts zu tun. Texel gehört den Schafen und Möwen, den Heulern und Kindern. Und all jenen, die einen bestimmten Fleck auf der Erde brauchen, um dort ihren persönlichen Sehnsuchtsort zu fixieren.
Die Corona-Lage in den Niederlanden
Vor Reisen in die Niederlande wird derzeit gewarnt, das Land ist Corona-Hochrisikogebiet. Vor der Rückkehr nach Deutschland müssen Reisende einen Corona-Test machen. Hier finden Sie alle Infos.