4. Juni 2014, 9:26 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Wangerooge ist eine kleine ostfriesische Insel. Aber für viele Gäste ist sie das Größte überhaupt. Im Sommer ist am Strand jeden Tag Hochbetrieb. Wem das zu viel wird, wandert durchs Watt oder am Abend um die Ostspitze.
Aus der Luft sieht Wangerooge aus wie ein Seepferdchen: Der Kopf ist im Westen, wo die Fähren anlegen, der Schwanz im Osten, wo keine Häuser mehr stehen und die Dünenlandschaft fast unberührt ist. Von den sieben bewohnten ostfriesischen Inseln ist Wangerooge die ganz rechts. Ob sie die kleinste ist, ist nicht ganz sicher – auf Baltrum wird das auch erzählt. Klein ist sie auf jeden Fall – vom westlichsten Punkt bis zum östlichsten sind es nicht einmal zehn Kilometer. Und vom Wattenmeer im Süden bis zum Strand an der Nordseite läuft man zehn Minuten, ohne sich anstrengen zu müssen. Und das soll man auf Wangerooge auch nicht: „Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt“, ist seit Jahren am Schiffsanleger zu lesen.
Im Sommer ist was los
Autos gibt es auf der Insel nicht, bis auf die Rettungsfahrzeuge, und es vermisst sie auch niemand. Hektisch wird es in der Zedeliusstraße, Wangerooges wichtigster Verkehrsader, allenfalls, wenn zu den Stoßzeiten Buggys, Bollerwagen und Badegäste auf dem Weg zum Strand einander in die Quere kommen. Denn es nützt nichts, es zu leugnen: Im Sommer wird es auf Wangerooge eng. In der Hauptsaison sind ein Vielfaches an Touristen am Strand, als das Inseldorf Einwohner hat.
Tagsüber zieht es die meisten Inselgäste fast automatisch an den Strand an der Nordseite. Im Winter spielen ihm Sturmfluten regelmäßig übel mit, im Frühjahr lässt ihn die Kurverwaltung mit Sand aus dem Inselosten wieder in Form bringen. Und im Sommer reiht sich vor der Kurpromenade dann ein Strandkorb an den anderen, in der Hauptsaison ist es bei gutem Wetter praktisch aussichtslos, noch einen abzubekommen, ohne reserviert zu haben.
Mit Petrus Wattwürmer zählen
Ein Radweg führt auf dem Deich entlang mit Blick über die Salzwiesen aufs Wattenmeer. Bei Ebbe sind dort regelmäßig Gruppen unterwegs, die mit Friedrich-Wilhelm Petrus durch den Schlick waten. Petrus, weißer Spitzbart im braun gebrannten Gesicht, ist der dienstälteste Wattführer der Insel und kennt jeden Wattwurm zwischen Harlesiel und Wangerooger Fähranleger persönlich. Eben hat er die Hand lässig auf seine Grabegabel gestützt und lässt den Blick über die Gruppe gleiten, die er zweieinhalb Stunden lang begleitet: 35 Landratten, von denen einige das erste Mal an der Nordsee sind und einen Austernfischer nicht von einem Alpenstrandläufer unterscheiden könnten.
Im Osten wartet die Einsamkeit
Wer Wangerooge noch einmal ganz anders erleben will, muss sich in den Inselosten aufmachen. Die Strandpromenade ist dort lange zu Ende. Spaziergänger sind manchmal ganz für sich allein, zwischen den Dünen und den Wellen, die hier noch mehr Platz haben, am Strand zu laufen. Für manche Besucher ist Wangerooge hier am schönsten, gerade am Abend, wenn es richtig ruhig wird.
Wer sich alleine nicht traut, abends das Inseldorf hinter sich zu lassen, kann sich den Mitarbeitern des Nationalparkhauses anschließen. Sie bieten im Sommer regelmäßig Exkursionen an die Ostspitze an, die vier Stunden dauern, oder auch mal etwas länger.
Dabei geht es mit dem Fahrrad bis zur östlichen Station der Vogelschützer beim „Café Neudeich“ und dann zu Fuß weiter auf der Wattseite. Diesmal führt Janina die Tour. Sie lässt alle in einer Reihe Aufstellung nehmen, die Augen schließen und dann ganz langsam vorwärtsgehen in Richtung Norden. Der Geruch ändert sich, das Meeresrauschen wird intensiver, der Wind nimmt zu. Und als alle die Augen aufmachen, stehen sie oben auf dem Dünenkamm und gucken Richtung Nordsee: auf den riesenbreiten Strand, der viel gewaltiger wirkt als im Inseldorf.
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Wer braucht schon die Karibik?
Es dämmert längst, als die Gruppe die Ostspitze umrundet und auf die Vogelinsel Mellum blickt, die direkt vor Wangerooge liegt. Ein Austernfischerpärchen zetert ein paar Meter entfernt. „Vorsicht“, sagt Janina, „die haben vergangene Woche noch gebrütet“. Bei allen Seevögeln heißt es: Abstand halten. In weiterer Entfernung hocken scharenweise Möwen auf dem Boden, 100 vielleicht oder mehr. Bald danach sind nicht einmal mehr Vögel zu sehen. Nur noch Dünen und Strand und die Nordsee.
„Das Meer ist die anschauliche Gegenwart des Unendlichen“, hat der Philosoph Karl Jaspers mal formuliert, der aus dem nahen Oldenburg stammt. Klingt nicht verkehrt. Janinas Gruppe läuft nun wieder Richtung Westen – mitten hinein in den Sonnenuntergang. Die rotorange Scheibe versinkt filmreif langsam am Horizont, wo Strand und See sich berühren. Man blinzelt einmal – und schon ist sie weg. Die Luft ist noch mild, und eine Zeit lang herrscht Schweigen. „Es gibt Leute, die fahren dafür in die Karibik“, sagt jemand. „Ja, stimmt“, antwortet ein anderer. „Was für ein Schwachsinn.“