10. September 2024, 7:39 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Das Königreich Konso im Süden von Äthiopien ist ein Ort unwirklicher Schönheit. Die gleichnamige Ethnie lebt dort in einer dicht bewaldeten grünen Hügellandschaft unter archaischsten Bedingungen, und doch getreu ihrer jahrhundertealten, reichen Kultur. Bei seinem Besuch sah unser Autor ein Dorf, das auch als glaubhafte Kulisse in jedem Fantasyfilm hätte auftauchen können, durfte einen heiligen Wald betreten und erhielt als Höhepunkt sogar eine Audienz bei einem echten Royal.
Während meine Füße versuchen, auf den matschigen Steinen einigermaßen Halt zu finden, ist in meinem Kopf einfach nichts. Nichts außer ungläubiges, ehrfürchtiges Staunen. Denn was ich gerade sehe, weigern sich sowohl mein Kopf als auch mein Herz einfach schlichtweg zu verarbeiten. Es ist, als hätte ich ein unsichtbares Portal aufgestoßen, und wäre hindurch aus der Moderne direkt in die Jungsteinzeit gestolpert. Das Dorf Mechelo im äthiopischen Königreich Konso, in dem ich mich genau in diesem Augenblick befinde, könnte genauso gut auch nur ein Fiebertraum sein. Eine meinem verwirrten Gehirn entsprungene Fantasie. Eine Fata Morgana, zu bizarr, um tatsächlich real zu sein.
Ich hatte kürzlich das unfassbare Glück, eine Reise nach Süd-Äthiopien und zu verschiedenen dort lebenden Ethnien unternehmen zu dürfen – und somit auch in das Königreich Konso. Doch nichts hätte mich auch nur ansatzweise darauf vorbereiten können, was mich schließlich bei den Konso erwartete. Zunächst ist da einmal die magisch schöne Landschaft, bestehend aus zahllosen grünen, dicht mit Dschungelvegetation bewaldeten Hügeln. Sieht man auf der Fahrt von der Hauptstadt Addis Abeba vor allem karges flaches Land, so ist der Anblick dieser zauberhaften Kegel nur der erste von zahllosen Wow-Momenten bei einem Besuch. Und treffend bedeutet das Wort Konso übersetzt auch so viel wie Hügel. Ihren Namen hat sich dieses bemerkenswerte Urvolk nach dem Ort gewählt, an dem sie leben.
Das Königreich Konso hat Welterbe-Status
Etwa 450.000 Menschen bevölkern das Königreich Konso, und sie leben als Bauern, Weber, Töpfer oder Schmiede verteilt auf insgesamt 43 Dörfer. Diese sind allesamt auf den namensgebenden Hügeln erbaut, die das etwa 240 Hektar große Hoheitsgebiet durchziehen. So erstaunlich sind ihre Dörfer und ist ihre Kultur des Terrassenfeldbaus, dass ein insgesamt 55 Quadratkilometer großes Gebiet mit 11 Siedlungen bereits seit 2011 zum Unesco-Welterbe gezählt wird. Eine davon ist das eingangs erwähnte Mechelo, ein Ort von einer derartigen Archaik, dass er mit nichts zu vergleichen war, was ich zuvor jemals gesehen hatte.
Die Mitreisenden und mich erwartete ein magisches Labyrinth aus steinernen Gässchen, die uns mit der Zeit immer tiefer in das Herz von Mechelo führten. Nur mit einem einheimischen Guide darf man die Konso-Dörfer überhaupt betreten, und ihm folgten wir nun in das Innere dieses mystischen Geheimnisses. Begleitet von gefühlt sämtlichen Kindern und auch älteren Menschen aus dem Ort, die uns Neuankömmlinge mindestens genauso neugierig bestaunten wie wir sie. Kleine Hände schlossen sich vertrauensvoll um unsere Finger und zogen uns hinein, und mein Herz machte vor Glück und Verwirrung die wildesten Sprünge.
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Bäume als Kalender
Ein typisches Dorf im Königreich Konso besteht aus verschiedenen, von steinernen Mauern begrenzten Ringen, in denen jeweils bis zu mehrere hundert Menschen leben können. Der innerste Kreis ist zugleich der älteste. Wurde hier der Raum zu eng, baute man mit der Zeit eben neue, breiter gezogene Ringe den jeweiligen Hügel hinab. Jeder der Ringe hat seine eigenen Hierarchien, und diese werden nach einem erstaunlichen Prinzip bestimmt. Nur alle 18 Jahre wechselt hier die politische Macht. Dann werden die Männer eines Dorfes im Alter von 20-38 automatisch zu den neuen Entscheidern gewählt. Zu Ehren dieses Ereignisses wird aus dem heiligen Wald des Königs von Konso ein sogenannter Generationenbaum geschlagen und auf dem Dorfplatz des jeweiligen Ringes aufgestellt.
Die Generationenbäume dienen im Königreich Konso somit auch als eine Art Kalender. Denn an ihnen kann man die vergangene Zeit in 18-Jahres-Schritten messen. Jeder Dorfplatz hat außerdem mindestens ein sogenanntes Mora-Haus, in denen wichtige gesellschaftliche Anlässe wie Hochzeiten oder Gerichtsverhandlungen stattfinden. Ab einem Alter von 12 Jahren bis zu ihrer Heirat schlafen hier die jungen Männer eines jeden Dorf-Ringes zusammen und verrichten tagsüber gemeinnützige Arbeiten. In Mechelo leben aktuell etwa 6000 Menschen unter Bedingungen, die man sich als Europäer sprichwörtlich einfach nicht vorstellen kann.
Grenzenlose Bewunderung
Die Häuser und Bauten sehen generell aus, als hätte ein Sturm einfach zufällig ein paar Äste zusammengewürfelt. In ihnen wohnen auf engstem Raum die Familien mit ihrem Vieh zusammen. Sämtliche Wege sind unbefestigt und verwandeln sich bei Regen in Schuhwerk-zerstörende Matschpisten. Sanitäre Einrichtungen, fließend Wasser oder Strom gibt es nicht, könnten hier auch genauso gut noch nicht erfunden worden sein. Und dennoch ist es keinesfalls ein Eindruck von Armut, den man bei einem Besuch im Königreich Konso erhält. Im Gegenteil, der Anblick ist pure Magie. Die Bewunderung für Menschen, die unter derart einfachen Konditionen so viel lachen, mit so wenig zufrieden sein können, stieg bei mir ins Grenzenlose.
Das Konso-Museum ganz in der Nähe gibt anhand zahlreicher erstaunlicher Artefakte Aufschluss über die mindestens 750-jährige Geschichte der Ethnie. Vor allem über den Begräbniskult, der sich um bedeutende Persönlichkeiten rankt. Zu sehen sind unter anderem einige Wa’kas, hölzerne Schutzgeister. Stirbt ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft, wird zu seinen Ehren ein eigener Wa’ka aus Akazie oder Wacholder geschnitzt, der dann künftig für alle Ewigkeit dessen Grab bewacht.
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Außergewöhnlicher Begräbniskult
Stirbt gar der aktuelle König, der sogenannte Poqalla, greift ein ganz besonderes Ritual. Denn der Brauch will es, dass der Leichnam erst nach neun Jahren bestattet wird. Bis dahin gilt der Mensch nur als krank, nicht tot, und die Dorfältesten übernehmen seine politischen Geschäfte. Die Leiche des Poqalla wird mumifiziert, mit Honig, Butter und Kräutern behandelt und in einem besonderen, bewachten Haus aufgebahrt. Eingeweide und auch Augen begräbt man schon vorher separat. Ist es dann so weit, wird der Poqalla in den heiligen Wald überbracht und neben seinen Ahnen zur letzten Ruhe gebettet, natürlich bewacht von einem besonders prachtvollen Wa’ka.
Mir wurde bei meinem Besuch am Ende sogar die Ehre zuteil, sowohl diesen Wald sehen zu dürfen, als auch den aktuellen Herrscher des Königreich Konso. Er lebt abseits von seinem Volk mit seiner Familie und mehreren hundert Getreuen in einem riesigen Komplex. Für mich erstaunlich war zunächst, dass die Häuser sich hier um nichts von denen in Mechelo unterschieden. Dieselbe Einfachheit, Bescheidenheit, Demut. Gazan, der 20. König von Konso, ist so ziemlich das genaue Gegenteil von in unseren Breiten bekannten Royals. Ein Monarch zum Anfassen, ein landesweit gefragter und respektierter Vermittler und Streitschlichter.
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Ein nahbarer König
Ganz bescheiden und ruhig erschien er vor uns. Bunte, traditionelle Tracht, Armbanduhr, immer wieder klingelte während unseres Gesprächs sein Smartphone. Die Geschicke der Diplomatie habe er schon von seinem Vater und Großvater erlernt. Programme unter anderem der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hätten ihn dann weiter geschult. „Wenn wir anfangen, alle gemeinsam für die soziale und ökonomische Entwicklung unseres Landes zu arbeiten, wird es für uns eine sehr gute Zukunft geben.“ Solche Sätze spricht König Gazan gemessen, leise und bedacht, während wir auf Ziegenfellen sitzend staunend zuhören.
Lachend erinnert sich Gazan, wie er auf einer Veranstaltung in Addis Abeba einmal sogar Wladimir Putin getroffen habe. „Wir konnten uns leider aber nicht persönlich unterhalten.“ Für das äthiopische Bildungssystem und die hiesigen Machthaber findet er keine so freundlichen Worte. „Politiker suchen immer nur ihren Vorteil. Wenn sie Möglichkeiten sehen ihre Macht zu stärken, handeln sie. Ansonsten verschleppen sie Prozesse oder betrügen.“ Er selbst wolle seinem Volk ein Diener sein. Meistens geht es bei den Streits, die er schlichten muss, um Eigentumsfragen oder geliehenes Geld. Manchmal, selten glücklicherweise, auch Mord. Die 240 Hektar, die sein Königreich Konso umfasst, stellt er seinem Volk frei zur Bewirtschaftung zur Verfügung.
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„Ich lasse mich nicht zum Spielball von Gruppen oder Interessen machen.“ Was Gazan sagt, das glaubt man ihm auch. Während wir in Europa die Royals nur aus den Medien kennen, sitzt hier plötzlich einer wie selbstverständlich vor uns. Und tauscht dann zum Abschied gerne auch noch Whatsapp-Nummern mit der Gruppe aus. Ich erhalte von ihm ein ganz besonderes Geschenk, dass mich immer an meinen Besuch im Königreich Konso erinnern wird. Eine Handvoll Bohnen, die ich in einem Sommer mit weniger Schneckenplage auszusäen beabsichtige. Wenn Völkerverständigung immer so einfach wäre, dann wäre unsere Welt eine bessere.