21. November 2022, 6:44 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
TRAVELBOOK-Autorin Anna Wengel (Chiodo) war knapp drei Monate in Indien. Hier erklärt sie, wieso Goa zwar ein guter Startpunkt für Indien-Reisende ist, für einen Eindruck vom Land aber nicht ausreicht.
Ein Mann liegt am Straßenrand. Er stört sich nicht am Hupen der Rikshas, den rasanten Überholmanövern der Busse oder hungrigen Bissen der Straßenhunde. Der Mann ist tot. Liegt da, gehört einfach dazu. Wie die orange-gekleideten Sadhus mit ihren weiß-rot-gelben Bemalungen im Gesicht und die Kühe, um die sich jeder Verkehrsteilnehmer irgendwie herum manövriert. Sie alle sind Teil des Straßenbildes in der südindischen Stadt Tiruvannamalai. Mich hat das schockiert. Dass da einfach einer sterben kann und es offenbar keinen schert. Bis heute frage ich mich, ob irgendjemand die Leiche irgendwann weggeräumt hat oder sie echt einfach Stück für Stück aufgefressen wurde.
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Solche Bilder haben sich aus Goa nicht in in mein Gehirn gebrannt. Goa ist Indien light. Es erinnert an das Original, ist aber eben nur seine abgespeckte Version. Deshalb ist Goa der optimale Einstieg für die erste Indien-Reise. Es erschreckt westliche Touristen nicht, hier knallen die Kulturen nicht so krass aufeinander. Man kann Indien erstmal beschnuppern.
Mehr Tipps und Inspirationen rund um Goa gibt TRAVELBOOK-Autorin Anna Wengel (Chiodo) in der folgenden Podcast-Folge von In 5 Minuten um die Welt:
Goa – mehr Urlauber als Einheimische
In Goa brauchen Touristen ihre Hände und Füße nicht zum Reden. Alle sprechen Englisch. Urlauber sind überrepräsentiert. Entsprechend haben sich die Einheimischen, gefühlt in der Unterzahl, an die Touristenmassen angepasst, die Goa jährlich besuchen. Wo zum Beispiel guter Kaffee in Indien für verwöhnte Europäer Mangelware ist, finden sie in Goa plötzlich eine Auswahl an Läden mit starkem Kaffee in allerlei Variationen. Gleiches gilt fürs Essen. Konnte oder wollte sich der zimperliche Magen noch nicht an die scharfen Nationalspeisen gewöhnen, bekommt er hier außer Reis und Chapati viele unscharfe Wahlmöglichkeiten hipsterlicher Food-Trends.
Auch in puncto Kleidung brauchen Touristen sich nicht anzupassen. Während Strandurlauber in Mamallapuram im Südosten Indiens nur komplett bekleidet ins Meer springen, zeigt man in Goa Haut. Und davon viel. Weiße Leiber in Bikinis und Boardshorts versuchen nicht nur am Strand ihre Drinnenhautfarbe in einen Sommer-Teint zu verwandeln, auch in den engen Gassen der Fischerdörfer Agonda und Arambol dürfen die Bierbäuche über den Hosen und die Hintern aus den Shorts hängen. Stört ja keinen.
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Himalaya und Yoga-Vibes
Genauso scheint es auch keinen zu stören, wenn Frauen und Männer in Konstellationen zusammenwohnen, die für traditionelle Gläubige Sittenlosigkeit schreien: Als wir unserer Vermieterin in Goa erklären, dass wir zu acht in ihrem Zwei-Zimmer-Appartement wohnen wollen, zuckt sie nur mit den Schultern und verlangt mehr Geld. Als ich hingegen gemeinsam mit zwei männlichen Reisefreunden ein Hotelzimmer in Puducherry beziehen will, sehe ich förmlich, wie der aufgeregte Hotelier das Wort „Hure“ auf meine Stirn brennt. Beruhigen lässt der sich dann allerdings, als wir ihm eine Schubladen-konforme Geschichte liefern, dank der ich plötzlich um einen Ehemann und einen Bruder reicher bin.
Goa ist näher am westlichen Standard, es gibt weniger kulturell bedingte Selbstverständlichkeiten, auf die man hier Rücksicht nehmen muss als andernorts. Zu sehr sind es die Einheimischen in dem Touri-Zentrum gewöhnt, dass sich Besucher daneben benehmen. Zu normal ist es, dass auf offener Straße getrunken, geknutscht und in unpässlicher Kleidung herumgelaufen wird. Natürlich ist das einfacher, der Kulturschock geringer. Aber man lernt Indien nicht kennen, wenn man nur in Goa rumhängt und das Gewohnte zelebriert. Es gibt so viel Indien, das man in Goa nicht erfahren kann. Neben menschlichen Begegnungen sind das wirklich atemraubende Landschaften. Das Himalaya-Gebirge zum Beispiel. Nur oben im Norden konnte ich über einen riesengroßen blauen Mond staunen, der über den schneebedeckten Gipfeln der Bergmonstren stand und so dem menschengroßen Riesenaffen, der in der Nähe auf einem Baum saß, echte Konkurrenz machte.
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Smog – ein großes Problem
Oder Spiritualität. Mein Hauptgrund nach Indien zu reisen war Yoga. Und damit bin ich nicht allein. Seit Yoga westliche Massentauglichkeit erreicht hat, pilgern Wannabe-Yogis in Scharen nach Indien. Trotzdem gibt es noch Orte, in denen eben jene Stimmung spürbar ist, wegen der viele von uns gekommen sind. Ballermann-Goa gehört trotz diverser Angebote in Sachen Yoga, Meditation & Co. nicht dazu. Der Ort mit dem Toten auf der Straße aber schon: Tiruvannamalai. Die Tempel-Berg-Stadt im Bundesstaat Tamil Nadu im Süden ist einer der beliebtesten hinduistischen Pilgerorte. Der Gott Shiva soll hier einst auf dem Berg Arunachala erschienen sein. An prominenter Stelle auf der Bergspitze steht jetzt das Shiva-Attribut Trishula, der Dreizack, und wacht über die Stadt. Und mit ihr über den riesigen Arunachaleswara-Tempel, zu dem das ganze Jahr über vor allem indische Pilger kommen und die Stadt in eben jene entrückte, irgendwie unwirkliche Stimmung versetzen. So richtig sehen kann man den Tempel vom Berg aus dann aber doch nicht. Smog. Auch das unterscheidet Goa von vielen anderen Teilen Indiens: Smog ist direkt am Meer kein großes Problem, fast überall anders schon.
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Selbst hoch oben in den Bergen ist der Abgasnebel ein Thema. Früh am Morgen kann man vom Dorf Bhagsu noch runter auf McLeod Ganj und damit fast auf das indische Zuhause des Dalai Lamas gucken. Kurz nach Sonnenaufgang verschwindet Dharamsalas Vorort unter einer dichten Dunstwolke. Nicht ganz so dunstig ist dagegen das andere Yogi-Pilger-Zentrum Indiens: Rishikesh im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand. Obwohl hier gefühlt fast so viele Touristen unterwegs sind wie in Goa, hat sich der Beatles-Pilgerort seine spirituelle Stimmung irgendwie erhalten. Der Grund fließt durch und neben der Stadt: der heilige Fluss Ganges. Ort der Reinigung, Leichenentsorgung und des Wassersports.
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All das ist Teil des indischen Alltags. Eines Alltags, der für viele westliche Besucher erst einmal gewöhnungsbedürftig, manchmal absolut nervenaufreibend ist, in Goa aber nicht erlebt werden kann.