16. Januar 2020, 10:44 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
In Chile kommt es in den Städten seit Monaten immer wieder zu gewaltsamen Demonstrationen. Das hat auch Auswirkungen für Chile-Reisende. Welche Ursachen aber haben die Proteste? Wann wird wieder Ruhe im Land einkehren? TRAVELBOOK hat dazu ein Interview mit der weltbekannten chilenisch-US-amerikanischen Schriftstellerin Isabel Allende geführt.
Chile zählt seit jeher zu den beliebtesten Reiseländern in Südamerika. Ob die Atacama-Wüste oder die atemberaubenden Gletscher-Landschaften in Patagonien: Mit seinen zahlreichen Natur-Highlights lockte das Land Touristen aus aller Welt an. Lange Zeit galt Chile als eins der sichersten Reiseländer Südamerikas. Aufgrund anhaltender politischer Unruhen ist die aktuelle Lage jedoch mehr als angespannt.
Seit Oktober 2019 kommt es in Chiles Hauptstadt Santiago wie auch in anderen Städten immer wieder zu Demonstrationen und Unruhen. Anlass für die Proteste war u. a. die Ankündigung von Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Obgleich Chile zu den reichsten Ländern Südamerikas zählt, leben dort 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur unter Pinochet viele Menschen in Armut und sozialer Ungleichheit.
TRAVELBOOK-Interview mit Isabel Allende zu den politischen Unruhen in Chile
Mit ihrem 1982 veröffentlichtem Debütroman „Das Geisterhaus“ wurde Isabel Allende, eine Nichte des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende, weltbekannt. In dem Roman erzählt die heute 77 Jahre alte chilenisch-US-amerikanische Schriftstellerin die Geschichte einer Familie in der Zeit der Pinochet-Diktatur. Auch in Allendes jüngstem, 2019 auf Deutsch erschienenem Roman „Dieser weite Weg“ (Originaltitel: „Largo Pétalo de Mar“) geht es um eine Familiengeschichte, die in Spanien beginnt, in ihrem weiteren Verlauf aber in Chile spielt. Obwohl Isabel Allende seit Ende der 1980er-Jahre in den USA lebt, ist sie ihrem Heimatland Chile eng verbunden geblieben. TRAVELBOOK hat die Schriftstellerin per E-Mail um ein Interview zur Lage in Chile gebeten.
TRAVELBOOK: Welche persönliche Beziehung haben Sie zu Chile?
Isabel Allende: „Ich bin täglich in Kontakt mit meinem Land. Obwohl ich dort praktisch keine Familie mehr habe, habe ich einige sehr gute Freunde und emotionale Bindungen.“
Wie beurteilen Sie die aktuelle politische und soziale Situation in Chile? Woher rühren die massiven Proteste?
„Dieser massive Ausbruch des Volkszorns braut sich seit mehr als 30 Jahren zusammen. Die Menschen haben das Paradigma statt: das neoliberale Modell, das zu einer der weltweit höchsten Ungleichheit sowie zu Korruption und Machtmissbrauch geführt hat. 25 Prozent des Besitzes befinden sich in der Hand von 1 Prozent der Bevölkerung. 40 Prozent der Bevölkerung können die Grundversorgung nicht bezahlen. Sogar Wasser wurde privatisiert. Einige Geschäftsleute (wie der Präsident), Politiker, Unternehmen und die privilegierte Klasse der Ultra-Reichen profitieren schamlos seit der Zeit von Pinochet. (Privat nennen sie sich „die Eigentümer von Chile“.) Die Menschen fordern eine neue Verfassung und tief greifende Reformen des Wirtschaftssystems. Die Regierung scheint gelähmt. Die wenigen Maßnahmen, die der Präsident vorgeschlagen hat, wurden sehr schlecht aufgenommen, die Menschen fühlen sich getäuscht. Ich denke, der Protest wird weitergehen und wahrscheinlich zunehmen, bis alle Forderungen von der Regierung erfüllt sind.“
Könnte eine neue Verfassung den Frieden im Land wiederherstellen? Wenn ja, unter welchen Umständen?
„Es ist geplant, im April 2020 eine Volksabstimmung abzuhalten, um zu fragen, ob die Mehrheit eine neue Verfassung wünscht. Falls ja, wird es einige Zeit dauern, bis eine neue demokratische Verfassung vorliegt, die von allen politischen Parteien angenommen wird und in der die Chilenen mitwirken können. Die, die wir jetzt haben, wurde 1980 von Pinochet aufgezwungen. Nach der Ausarbeitung der neuen Verfassung würde es eine weitere Volksabstimmung geben, um diese zu billigen oder abzulehnen. Natürlich wird das Land nicht ruhig darauf warten, bis dies geschieht. In der Zwischenzeit sind dringende Maßnahmen erforderlich, um Wut und Frustration in der Bevölkerung einzudämmen: Erhöhung der Löhne und Renten, Einfrieren der Studentenschulden, Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen, Rückgabe der Grundversorgung an den Staat (alles ist in privater Hand), angemessene Steuern für die Reichen, Gerechtigkeit für alle. Heute kann man ins Gefängnis kommen, wenn man ohne Genehmigung Dinge auf der Straße verkauft, während die Privilegierten Milliarden stehlen und, wenn sie erwischt werden, „Ethikunterricht“ bekommen. Das ist wirklich ein Witz.“
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Chiles?
„Einen Paradigmenwechsel. Kein neoliberales Modell mehr. Tief greifende Reformen, um die Ungleichheit bei den Einkommen zu minimieren, Ressourcen und Chancen. Die Schaffung eines Sicherungsnetzes, das angemessene Renten, Gesundheitsversorgung und Bildung, Schutz für Arbeitnehmer und mehr bietet. Ich wünsche mir die Einbeziehung der jungen Generation in das Management des Landes. Jetzt protestieren sie, bald werden sie alt genug sein, um es zu leiten. Was wollen sie?“
Welche sind Ihre Lieblingsorte in Chile?
„Ich bevorzuge den Süden des Landes: Valdivia, Pucón, Chiloé.“
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Was das Auswärtige Amt Chile-Reisenden jetzt rät
Laut Auswärtigem Amt kommt es vor allem in Santiago de Chile, der Hafenstadt Valparaíso wie auch in anderen Städten Chiles zu Demonstrationen. Straßenblockaden, Störungen des öffentlichen Nahverkehrs wie auch gewaltsame Ausschreitungen bei den Studentenprotesten könnten nicht ausgeschlossen werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Indigenengruppe der Mapuche könne es zudem in der Umgebung von Temuco in der 9. Region (Araucanía) zu Sperrungen von Fernstraßen durch gewaltbereite Gruppen kommen.
Aus den genannten Gründen rät das Auswärtige Amt Reisenden,
- sich über lokale Medien über die aktuelle Lage zu informieren
- die Fernstraßen in der 9. Region und Umgebung bei Dunkelheit zu meiden
- Demonstrationen und größere Menschenansammlungen weiträumig zu meiden
- den Anweisungen lokaler Sicherheitskräfte zu folgen.