15. Juli 2019, 16:01 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Jedes Jahr fallen bei Europas größtem Hip-Hop-Festival tonnenweise (Plastik-)Müll an. Schafft man es, beim Openair Frauenfeld ohne Zelt und Essen und nur mit einer Bauchtasche auszukommen? Ein Nachhaltigkeits-Selbstversuch.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf noizz.de
Es ist ein Uhr nachts, und ich liege zusammengekauert auf einem Campingstuhl, der nicht mir gehört. Ich fühle die Moshpits in meinen Knochen, während mein Körper zugleich zittert und schwitzt. Im Gegensatz zu den Menschen, die an mir vorbeitorkeln, habe ich nichts getrunken oder eingenommen. Trotzdem hatte ich eine Idee, auf die man wohl nur high kommen kann: lediglich mit einer Bauchtasche ausgerüstet auf ein Festival zu gehen.
Doch nun befinde ich mich zwischen Mülltüten, Bierdosen und zerstörten Pavillons und höre Trettmann aus der Ferne rappen: „Ein Hoch auf die, die immer da war’n, auch wenn ich scheiter“ – und, ja, ich bin gescheitert.
Dabei wollte ich – statt der einhundertsten Festivalreportage über Dosenravioli – auf witzige Art und Weise der Konsumgesellschaft den Kampf ansagen. Auch ich habe die Jahre zuvor bei Amazon Glitzersteine für das Gesicht bestellt, auf dem Festival aber nie gründlich mein Gesicht gewaschen. Mein Essensvorrat hat für fünf Personen gereicht und mein Koffer war größer als manch ein Zelt.
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„Was ich wirklich benötige, passt in eine Bauchtasche“
Das meiste davon habe ich aber gar nicht gebraucht, schließlich gibt es alles vor Ort und davon viel zu viel. Die Essensstände haben sicher altes Brot übrig, und eine nette Nachbarin bietet mir bestimmt Platz in ihrem Zelt. Was ich wirklich benötige, passt in eine Bauchtasche – so die Idee. Als Notlösung und moralische Unterstützung habe ich meine Freundin Jana dabei, die im Gegensatz zur mir Zelt, Schlafsack und Geld eingepackt hat.
Dank Umweltaktivisten ist Konsumverhalten dieses Jahr bei Großveranstaltungen ein wichtiges Thema. Schließlich sind es vor allem Festivalbesucher, die Unmengen an Müll produzieren. Nach Angaben des „Schweizer Rundfunks“ hatte das Frauenfeld Festival vergangenes Jahr 297 Tonnen Abfallmenge nachzuweisen – bei 180.000 Besuchern in drei Tagen. Gerade mal 30,5 Prozent wurde davon recycelt. Wie viel Müll bei einem Festival liegen bleibt, könne man nach Aussagen von Joachim Bodmer aber nicht genau sagen. „Wenn es regnet, wiegt Pappe schließlich mehr“, schreibt der Pressesprecher in einer E-Mail und verweist bei meinen Fragen auf einen bereits veröffentlichten Artikel.
Dreck und Unordnung
Doch Greta Thunberg und „Friday for Future“ haben auf den Campingplätzen der Frauenfeld-Festivalbesucher so wenig zu suchen wie Putztücher und Gemüse. Bei meiner Ankunft an Tag zwei liegen die vollgesprayten Pavillons zerstört auf dem Boden, neben durchnässten Klamotten, Gras, Wodkaflaschen, Zigarettenstummeln und offenen Chipstüten. Spricht man die Leute auf ihren Dreck und ihre Unordnung an, reagieren sie ertappt – wie beim Abschreiben in der Schule. „Wir haben das Gefühl, dass die meisten auf Sauberkeit scheißen. Aber wir machen unseren Müll weg“, sagt ein Typ und zeigt auf ein Zelt, das mit Panzertape beklebt ist.
Zwischen Dreck und Fast Food suchen wir eine freie Stelle für Janas Zelt. Doch die Besucher sparen weder Müll noch Platz. Ihre Campingdomizile sind größer als manches Wohnzimmer – inklusive Bier-Ping-Pong-Tischen, Liegen, Schminkecken und Kühlboxen. Manche Gruppen haben ihre Plätze sogar mir Pappschildern und Fahnen markiert. Es scheint nicht darum zu gehen, wer die meisten Konzerte besucht – sondern wer den geilsten Campingplatz baut.
Größtes Hip-Hop-Festival Europas
Ich hingegen konzentriere mich auf das Wesentliche, die Musik. Da ich keinen Campingplatz habe, auf dem ich rumhängen kann und den ich aufbauen muss, bin ich schon um 12 Uhr auf dem Festivalgelände. Ich lausche Rappern, für die ich mich sonst niemals von meinem Campingstuhl aufgerafft hätte. Musikalische Vielfalt wird geboten – schließlich ist das Frauenfeld Open-Air das größte Hip-Hop-Festival Europas.
Am gleichen Wochenende findet das Splash in Gräfenhainichen (bei Sachsen-Anhalt) statt. Die Line-ups ähneln sich dieses Jahr stark: unter anderem sind Future, Juju, Reezy, Serious Klein und Trettmann auf beiden Festivals vertreten. Doch scheint das Splash in Ferropolis dem Event in der Schweiz beim Thema Nachhaltigkeit weit voraus zu sein. Mit „Fairopolis“ soll abseits des Festivalwahnsinns über Nachhaltigkeit informiert werden. So gibt es neben mobiler Mülltrennung auch eine Vielzahl an Informationsveranstaltungen und Workshops, die mir mein Selbstversuch erleichtert hätten.
Bei „Hermine“ und „Utopia Camping“ kann man sich upgecyclete Zelte ausleihen und bei „Foodsharing“ und der „Wittenberg Tafel“ nach übrigem Essen fragen oder selbst welches spenden. Die gleichen Angebote unter dem Motto „Green Camp“ gibt es auch für das „Melt“ und „Full Force“, Festivals, die ebenfalls in Ferropolis stattfinden. Steffen Martini, Organisator des Splashs, ist überzeugt, dass mein Selbstversuch auf den Festivals in Ferropois gelingen kann.
Zelt-Voucher für 20 Franken
Bei dem Frauenfeld Open-Air bin ich mir nach meinen ersten Tag des Selbstversuchs nicht so sicher. Dafür wird sich meiner Meinung nach zu wenig für Müllverbrauch und Nachhaltigkeit eingesetzt. Zelt-Voucher im Wert von jeweils 20 Franken sollen helfen, dass weniger Zelte und Pavillons einfach dagelassen werden. Doch fragt man bei den Besuchern nach, konnten viele die Vorkosten umgehen. „Wir haben alles reingeschmuggelt“, sagen unsere Nachbarn – drei Jungs aus Schaffhausen. Der Pfand würde sie nach eigener Aussage eh nicht motivieren, Pavillon und Zelte wieder mitzunehmen. Der Aufwand, alles abzubauen, lohne sich nicht. Ein Zelt gibt es bei Discountern schließlich schon ab 19,99 Euro, Pavillons bei Amazon für 12,99 Euro.
Auch Jana musst nicht für ihr Zelt Voucher zahlen. Die Dame an der Kasse kann den 50-Franken-Schein nicht wechseln. „Nimm einfach bitte wieder das Zelt mit“, heißt es. Dazu gibt es zwei große Mülltüten. Getrennt wird hier nur nach Pfand und Abfall.
Freigetränke, Kuchenstücke und Müsliriegel
Dass es bei dem Frauenfeld Festival keine Informationsveranstaltungen und Workhops zu Nachhaltigkeit gibt, hindert mich aber nicht, mein Bauchtaschenexperiment durchzuziehen. Ich ernähre mich von Freigetränken und kleinen Kuchenstücken im Pressebereich. Meine Nachbarn stecken mir Müsliriegel in die Jackentaschen, und Mädchen verteilen Chipstüten. Als ich bei den Essensständen nachfrage, ob denn altes Brot oder eine zu dunkel gebratene Wurst übrig sei, bekomme ich lediglich schräge Blicke. Ein Burgerstand behauptet, dass er die Reste an Obdachlose spendet, ein anderer meint, dass er alles verkauft bekommt. Ich solle um vier Uhr nachts wiederkommen, wenn der Verkaufstag vorbei ist.
Lediglich eine nette Dame vom Donut-Stand bietet mir zwei Teilchen an – die bekomme jeder auf Nachfrage zu probieren.
Ich beschließe, andere Festivalbesucher nach Essen zu fragen. Doch beim Einblick von Wurstscheiben in der Sonne und Raviolidosen im Dreck vergeht mir der Appetit. Meine Beute: wieder ein paar Müsliriegel. Dann sehe ich, dass eine Frau vor ihrem Pappteller sitzt und das Fleischkäsweckle nicht anrührt. Ich frage, ob sie das noch essen wolle oder ob ich das noch haben könne. Ich habe ein gewisses Schamgefühl, aber endlich auch etwas zu essen, das mir nicht wie flüssiger Zucker zwischen den Zähnen kleben bleibt.
„Schlafen bei Regen macht krank“
Ich merke: Wer sich auf dem Festival ungesund ernährt und nicht mal einen Campingstuhl für ein kurzes Nickerchen hat, der wird schnell müde. Meine Option, die Nacht durchzumachen, habe ich an den Nagel gehängt. Schlafen im Medienbereich wäre geschummelt. Schlafen bei Regen macht krank. Ich beschließe, eine von zwei Nächten im Zelt bei Jana zu verbringen. Ohne zusätzliche Decken ganz schön unbequem – aber immerhin werde ich nicht nass.
Dass ich seit zwei Tagen die gleichen Klamotten trage, stört mich hingegen wenig. In meine Bauchtasche passt eine Zahnbürste, ein Schlüppi und ein kleiner Waschlappen. Zahnpasta und Deo geben mir andere Festivalbesucher. Wer es darauf anlegt, muss nicht mal mehr auf Make-up verzichten: Die Kosmetikmarke „NYX“ hat einen Beautystand aufgebaut, frisiert die Haare und schminkt mit Glitzer. Wer genügend Geld mitnimmt, bekommt alles vor Ort. Klopapier, Einweggrills, Getränke, Bier und Essen kann man in Migros-Shop kaufen – man muss sich dafür nur lange anstehen und mehr bezahlen als in anderen Supermärkten.
Ich habe Gefühl, dass die Besucher sich daran ergötzen, ihre Kohle aus dem Fenster zu werfen. Leute? Gebt mir etwas ab!
Bezahlt wird nur mit Chip
Was den Konsum und die Ausgaben zusätzlich unterstützt, ist das Cashless-Prinzip. Auf dem ganzen Festival kann nicht mit Bargeld gezahlt werden. Am Cashless-Stand muss man das Geld auf einem Chip, der am Festivalbändchen befestigt ist, aufladen. Bis zu 3000 Euro geben die Menschen während des gesamten Festivals aus, verrät Mitarbeiterin Marlies Rubin. „Wer auf Alkohol verzichtet, sollte meiner Meinung nach mit 300 Euro hinkommen“, sagt die 52-Jährige. „Teuer ist es hier aber definitiv.“ Ihre Kollegin verrät uns zudem, dass manche Besucher ihre Chipkarte gar nicht mehr aufladen können – das Konto sei von vielen nach den ersten Tagen gesperrt, zu groß seien die Ausgaben.
Ich hingegen habe bis jetzt keinen Cent und Rappen für irgendetwas gezahlt. Jana beschließt, mich zu belohnen und mir etwas Gesundes zu Essen zu kaufen. Vielleicht bringt mich das wieder auf die Beine, so ihr Gedanke. Die gesunde Auswahl ist dürftig, und der Obstbecher in der prallen Sonne macht mich nicht wirklich an. Neben Döner, Pizza und Frittiertem entscheide ich mich für Steinpilz-Risotto. Doch dann will ich’s konsumieren und werde hart enttäuscht. Reis mit Wasser und Parmesangranulat auf einen Pappteller kostet Jana 13 Franken – und mich Motivation.
„Ich habe keinen Bock mehr“
Ich habe keinen Bock mehr. Das Frauenfeld Festival macht es mir nicht gerade leicht, mein Experiment durchzuziehen. Zudem gibt es keine Besucher, die mich, wie erhofft, unterstützen. Sie werfen ihr Essen direkt neben den Abfallcontainer – von denen eigentlich an jeder Ecke einer steht – und kotzen in die Mülltüten, anstatt sie zu befüllen.
Ich ekel mich nicht, weil ich wegen Jacken und Pullovern, die ich für die Nacht um mich gewickelt habe, schwitze – sondern weil mich der Anblick der Campingplätze anwidert. Die meisten Besucher ballern sich mit Gras den ganzen Tag die Birne weg, fallen in den Chillmodus und geben auf Nachhaltigkeit einen Fick. Ihr Tag beginnt um 18 Uhr, wenn die ersten nennenswerten Künstler die Bühne betreten. Sie haben nachts Energie, während ich schon lange auf den Beinen bin und müde werde.
Die Konzerte lenken mich ab. Juju und Hennig May versetzen mich auf Wolke 7, KC Rebell lässt mich in Gedanken im Murcielago rumcruisen und Estikay beglückt mich mit Raptalent bei Sonnenuntergang. Doch hören die Konzerte auf, latsche ich wieder im Dreck und schmecke den Zucker von Müsliriegel und Gratis-Red-Bull auf der Zunge. Rastlosigkeit und schlechte Ernährung machen platt. Mein Körper streikt, ich bin rastlos. Hunger, Pipi, Kalt.
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Mehr Einsatz für Nachhaltigkeit
Während Jana nach Marteria und Casper in das Zelt schlüpft, schnappe ich mir den Campingstuhl unserer Nachbarn. Ich möchte wirklich versuchen, ohne Jana auszukommen. Ich höre Trettmann aus der Ferne die Southstage abreißen. Wie gerne ich ihn doch gesehen hätte. „Ein Hoch auf die, die immer da war’n, auch wenn ich scheiter“, höre ich ihn rappen, und bei einem Blick nach links und rechts von mir gestehe ich mir selbst ein, dass mein Selbstversuch so nicht funktioniert. Ein Mensch allein reicht nicht aus, um die Konsumgeilheit und den enormen Müllverbrauch seiner Mitmenschen zu stoppen. In meine Bauchtasche passen zwar die nötigsten Sachen, aber nicht 297 Tonnen Abfall. Damit das reduziert wird, müssen die Organisatoren des Festivals ihre Besucher motivieren und sich für Nachhaltigkeit einsetzen.
Ich gebe mich geschlagen und schlüpfe in das Zelt von Jana. Denn auf eins kann man auf keinem Festival verzichten, selbst, wenn es nicht in die Bauchtasche passt: Freunde.
(Text: Laura Wolfert)