15. Oktober 2018, 15:12 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Im Süden Chiles liegen einige der schönsten Gegenden des Planeten. Man bekommt eine Ahnung davon, weshalb die Menschen bisher in der Lage waren, die Erderwärmung und die damit einhergehende Klimakatastrophe weitestgehend zu verdrängen. Warum sollte man angesichts der Erhabenheit der schönen Natur sofortige Maßnahmen zu ihrer Rettung ergreifen? Man sieht ja nichts! Also: Hat es nicht noch Zeit bis morgen? Und vor allem: Gibt es nicht noch viel zu viele schöne Orte, scheinbar unberührte Flecken, zeitlose Oasen, die man besser heute als morgen bereisen möchte? Also heißt es: Geld verdienen, schaffen, schaffen, Reisen machen!
Während Feuerland als eine der wenigen Regionen gilt, die vom Klimawandel verschont bleiben soll, geht es hier im Folgenden um die Regionen weiter nördlich: Araukanien (XIII.) und Los Rios (IX.) liefern. Die Reise beginnt in Santiago de Chile, der Hauptstadt des Andenstaats, die Anfang November immer staubiger wird und im Dezember vollends im Smog versinkt.
Wer Las Condes, den Stadtteil der oberen Mittelklasse, auf einer der kurvigen, hügeligen Straßen in Richtung Nordosten verlässt, kann sich nicht nur einen Überblick über die enorme Dunstglocke verschaffen, sondern wird sich auch noch ein wenig an Hollywoods Twin Peaks erinnert fühlen. Wer das Glück hat, einen Mietwagen zu ergattern, der keinerlei zusätzliche Kosten abverlangt, verlässt die Stadt zu dieser Jahreszeit also voller Vorfreude Richtung Süden. Achtung: Rentalcars hat zwar unschlagbare Angebote, allerdings kann es sehr gut passieren kann, dass nachträglich noch erhebliche Kosten für z. B. Straßensteuern hinzukommen.
Entgegen der Prognosen von Google Maps reisen wir (zwei Erwachsene plus Kind) flotter als vorgesehen, obwohl wir die vorgeschriebenen 120 km/h kaum merklich überschreiten. Wir verlassen die Panamerica hinter Chillan in Richtung Küste (ca. 10 Euro Mautkosten) und schaffen es weit über Concepcion hinaus. Die erste Nacht verbringen wir inmitten der Anbau- und Industriegebiete des Forstwirtschaftskonzerns Arauco, in der gleichnamigen Stadt.
Die meisten Cabañas (Holzhäuser) sind in dieser Jahreszeit ohnehin von Saisonarbeitern belegt. Hier bekommt man einen Eindruck von den Verheerungen der Holz- und Zellstoffproduktion. Sämtliche native Wälder mussten weichen, Eukalyptus-Monokulturen bestimmen das Bild südlich von Concepcion.
In Cañete machen wir am nächsten Tag Halt. Hier lässt sich der originale Urwald bestaunen, allerdings nur im Inneren eines Museums und auch das nur unter den Bedingungen einer Raumhöhe von ca. 3,50 Meter. Es ist das größte Museum des Volks der Mapuche, deren Kultur zuletzt auch durch die Expansion der Forstwirtschaft immer mehr bedroht wird. Im Museum, ein wenig außerhalb von Cañete, befinden sich großartige Exponate der Handwerkskunst. Es lässt sich außerdem ein Eindruck der Weltanschauung, Kosmovision und des spirituellen Vermächtnisses der Mapuche gewinnen.
Mancherorts sieht es aus wie in Deutschland
Über Nacht bleiben wir für sagenhafte 24 Euro am Lanalhue-See, in den wunderschönen Cabañas Los Boldos. Wir sind nur zufällig darauf gestoßen, einem Schild an der Straße folgend (Valle de la luna), und genießen nun von unserer Terrasse aus einen herrlichen Ausblick. Der See lädt zum Baden ein. Man ist von hier aus zwar gleich am Pazifik, wer aber schon mal etwas vom Humboldtstrom gehört hat, weiß, dass zum Schwimmen ein Neoprenanzug vonnöten ist.
Eine Freundin, der ich ein Bild schicke, schreibt zurück, das sehe ja aus wie im Schwarzwald. Tatsächlich gibt es immer wieder Orte und Regionen, die nicht nur sehr stark von der deutschen Kolonisation seit 1848 geprägt sind, sondern auch landschaftlich an Süddeutschland erinnern. Kein Wunder also, dass sich die Deutschen hier nach wie vor sehr wohl fühlen und in großer Anzahl vertreten sind.
Die Kultur der Mapuche
Auch die Mapuche haben hier, südlich des Flusses Biobio, die meisten comunidades. Wer Glück hat, kann auch außerhalb des Museums einen Eindruck der Kultur bekommen, wenngleich meistens einen eher touristischen. Und wer näher hinsehen möchte, muss schon viel Zeit mitbringen und vor allem das Vertrauen eines der Einwohner einer Kommune gewinnen. Es wird aber auch häufig die Frage gestellt: Warum sollte ich dir meine Kultur zeigen? Was bekomme ich von dir? Und damit ist nicht Geld gemeint. Die Mapuche sind aufgrund der kompromisslosen Maßnahmen des Staates Chile sehr vorsichtig und verschlossen geworden – verständlicherweise. In den letzten Jahren wurde viele der ursprünglichen Mapuche-Ländereien und -Wälder privatisiert, um der Forstwirtschaft hohe Gewinne zu bescheren. Wer sich dagegen zur Wehr gesetzt hat, wurde häufig für Jahre weggesperrt, ohne fairen Prozess. Die Polizei untersteht dem Militär und greift hart durch. Es gilt immer noch das Anti-Terror-Gesetz aus Zeiten der Diktatur.
Doch auch hier bestätigen wie immer Ausnahmen die Regel. Die Küche der Mapuche ist größtenteils vegetarisch, die Sopaidillas (gebackenes Brot) und frischen Säfte sind köstlich. Am besten haben wir in Curarrehue, außerhalb Pucons gegessen.
In einer Kurve, kurz vor dem Ortseingang, befindet sich das Restaurant auf der rechten Seite. Die Inhaberin und Köchin Anita (ja, deutsche Namen kommen bei den Mapuche häufig vor!) hat uns außerdem einen sensationellen Tipp gegeben. So sind wir nach dem Mittagessen nach Rio Blanco gefahren.
Rio Blanco ist ein völlig abgeschiedener Ort inmitten der Berge, circa 50 Kilometer Sand- und Schotterpiste hinter Currarehue. Rio Blanco, das waren auch einmal drei zerstrittene Brüder, die nun Cabañas vermieten, jeder für sich, mit Zugang zu natürlichen Thermen. Es sind heiße Quellen, die direkt aus dem Berg kommen. In mehreren Natursteinbecken kann man hier wie in einer großen Badewanne liegen, leider durch einen weniger hübschen Stacheldraht vom Nachbargrundstück getrennt – aus besagtem Grund. Doch der kleine Schönheitsfehler ist nicht weiter der Rede wert. Dahinter fließt der eiskalte Bergbach. So kann man also zwischen heiß und kalt wechseln – Kneipp lässt grüßen!
Campen direkt neben den Thermalquellen
Die Thermen erreicht man durch eine abenteuerliche Holzbrücke. Vor allem in einer kühlen, klaren Nacht mit Sternenhimmel ist das Erlebnis einzigartig. Camper finden hier ein wunderschönes Plätzchen direkt neben den Thermen. „Rico“ sagen die Chilenen zum Wasser, „lecker“. Es soll viel Magnesium und Zink enthalten. Wir haben es nicht probiert.
Die Nacht in der geräumigen Cabaña kostete umgerechnet 65 Euro, hat aber Platz für sechs Personen. Die Einrichtung ist schlicht, aber das spielt an solch einem unvergesslichen Ort keine Rolle. Señora Gladys ist eine herzliche Gastgeberin, die abends für uns kocht. Ihre Tochter, Enkeltochter und Urenkelin sind auch im Haus, in den Regalen stehen Einmachgläser mit Obst. Eine sehr familiäre Atmosphäre. Wer möchte, kann auch für 20.000 Pesos, circa 24 Euro, in einem Zimmer im Haus schlafen. Telefon und Netz gibt es nicht, der Strom kommt aus dem Generator, das Licht flackert wie Kerzenlicht. Romantisch.
Am Tag darauf fahren wir mit unserem völlig eingestaubten Auto (doch kein Achsenbruch!) über wackelige, baufällige Brücken, die wirklich kurz vor dem Einsturz sind. Leider haben auch hier ein paar Privatleute das Geschäft mit dem Holz gewittert. Die schweren Laster fahren nun über dieselben Holzplanken, die im Grunde kaum als Brücken zu bezeichnen sind. Hier würden im Ernstfall auch keine vier Räder weiterhelfen. 40 Kilometer weiter schlängelt sich der Lago Colico um den Berg, ein wunderschöner See, direkt am Fuß des Vulkans Villarica.
Schwimmen am Fuße des Vulkans Llaima
Neben den spärlichen Privatgrundstücken gibt es einige schöne Camping-Möglichkeiten, allerdings wenige Cabañas. In Cunco angekommen, entscheiden wir uns, in den Nationalpark Conguillío zu fahren. Hier auf 1500 Metern, am Fuß des Vulkans Llaima (letzter Ausbruch 2008), liegt ein Bergsee, kristallin, tiefblau, auf der einen Seite umgeben von einer bewaldeten Bergkette, zumeist Araukanienwälder, auf der anderen Seite Magmafelder, zum Vulkan hin, der schneebedeckt ist. Trotz Hauptsaison sind wir nur zu siebt am See. Das Wasser ist unglaublich toll, genau richtig zum Schwimmen. Die Sonne ist allerdings sehr stark.
Araukanien, die heiligen Bäume der Mapuche
Enrique, ein humorvoller Chilene, den wir im Nationalpark kennengelernt haben, zeigt mit dem Finger Richtung Horizont: „Das Ozonloch? Ist gleich da vorne!“ Also unbedingt mehrfach mit Faktor 50 eincremen! Am anderen Ende des Sees befinden sich Unterkünfte. Hier beginnen auch die Urwälder. Die Araukanien, das sind die heiligen Bäume der Mapuche, Jahrhunderte lang Nahrungsgrundlage, hier stehen sie in voller Pracht. Enrique hat Forstwissenschaften studiert und zeigt uns die ältesten Exemplare, manche bis zu tausend Jahre alt. An einem bleibt er stehen, um ihn zu umarmen.
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Abends übernachten wir bei Enrique in Temuco, weil wir sonntags auf den Markt wollen. Hier gibt es eine große Auswahl an Kunsthandwerk, handgewebte Teppiche und Ponchos, Originalinstrumente der Mapuche, außerdem Kräuter und Gewürze (ich würde jedem die Gewürzmischung „Merkén“ – Chilli, Koriander, Salz – empfehlen!).
Vom Whirlpool auf zwei Vulkane blicken
Tags darauf fahren wir nach Panguipulli. Direkt am See finden wir die Cabañas El viejo roble. Wir scheinen dem Besitzer Rogelio sympathisch zu sein. Drei Tage später erfahren wir von der Putzfrau, dass er uns einen Spezialpreis gemacht hat. Trotz Hauptsaison nur 55.000 Pesos pro Nacht (das Ganze mal 1,4, weniger drei Nullen und man kennt den Preis in Euro) statt den üblichen 100.000. Und die Cabañas sind ausgesprochen luxuriös. Wer Kinder dabei hat, kommt hier voll auf seine Kosten. Spielplatz und Trampolin befinden sich vor der Tür, es gibt außerdem eine Bootsanlegestelle mit Kayaks, Whirlpool, Fitnessstudio, Sauna. Abends im Whirlpool liegend, können wir gleich auf zwei Vulkane blicken, Villarica sowie Choshuenco. Mit dem Kayak fahre ich um eine Insel herum (leider ist die Insel von einem Immobilienhai aus Santiago bewohnt, betreten ist streng verboten!) und erblicke die vollen 28 Kilometer Länge des Panguipulli-Sees.
In Chile Irrer Bungee-Jump in einen aktiven Vulkan
Wo Tortilla und Spätzle zusammenpassen Lago Atitlán – der „schönste See der Welt“
Nix da Machu Picchu Titicacasee – die wahre Perle Südamerikas
Für die Mapuche hat sich seit der Conquista kaum etwas verändert
Um das Wirtschaftswachstum kontinuierlich zu steigern, unternehmen der Staat Chile sowie multinationale Konzerne alles (von megalomanen Staudammprojekten soll heute nicht mehr die Rede sein!). Folge: Weite Teile der Region werden für immer zerstört. Die umliegenden Flüsse (hauptsächlich betroffen ist der Fluss Biobio) werden außerdem regelmäßig mit Abwässern kontaminiert. Nicht nur die Kleinfischerei leider sehr unter der Entwicklung. Für die Mapuche hat sich seit der Conquista, den Eroberungsfeldzügen des Landes, nichts Wesentliches geändert, sie beschreiben eine kontinuierliche Geschichte der Zerstörung durch die „Huincas“, die weißen Männer.
In der Umgebung von Valdivia starb beispielsweise bereits der Großteil der blütenweißen Schwäne einen qualvollen Tod. Aus Wahrzeichen werden Warnzeichen.
So hat eine Reise immer zwei Seiten. Wer in Zukunft auf seinen ökologischen Fußabdruck achten möchte, wird auf Langstreckenurlaube verzichten oder viel Zeit einplanen und das Schiff nehmen müssen. Die anderen werden weiterhin Papier konsumieren und möglichst günstige Flieger nutzen und so ein klein wenig dafür sorgen, dass gerade die Reiseziele für immer verschwinden, die im Moment noch vergessen machen, auf welchen ökologischen Abgrund die Welt zurast.