2. Mai 2023, 7:32 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Der Ort Hambach ist immer wieder deutschlandweit in aller Munde. Der Grund: der RWE-Tagebau, in dem gigantische Mengen Braunkohle abgebaut werden, und die damit verbundenen Belastungen für die Region und Umwelt. Kritik gab es immer wieder, besonders bekannt wurden die enormen Proteste rund um den Hambacher Forst und die Räumung des Orts Lützerath. Nun gibt es wieder Ärger in Hambach – allerdings für die Zeit nach dem Kohleausstieg. Worum es geht: TRAVELBOOK hat es sich angeschaut.
In Nordrhein-Westfalen gibt es, nahe Köln, gigantische Kraterlandschaften. Man sieht sie aus Kilometern Entfernung, fast dystopische Abgründe, teils 400 Meter tief, in ihnen vereinzelt Bagger und Kräne. Hier, im Tagebau Inden, Garzweiler und Hambach, wurde seit Jahrzehnten Braunkohle abgebaut. Doch bald soll damit Schluss sein, ab 2029 wird in Hambach keine Kohle mehr gefördert. Was bleibt, sind die gigantischen Gruben. In ihrem jetzigen Zustand würden die sogenannten Tagebaumulden eine Gefahr darstellen: „Einfach so belassen geht nicht, die steilen Böschungen wären viel zu unsicher“, betont Guido Steffen von RWE gegenüber TRAVELBOOK. Das Loch muss also wieder gefüllt werden – und zwar mit Wasser.
Allein der Tagebau Hambach soll mit 4,3 Milliarden Kubikmeter Wasser geflutet werden, auf einer Fläche von 4200 Hektar. Das würde den Hambacher See vom Volumen zum zweitgrößten See deutschlandweit machen. Aktuell befindet sich auf dem zweiten Platz der Starnberger See, der allerdings „nur“ auf ein Volumen von 2,9 Milliarden kommt. Platz 1 geht, mit deutlichem Abstand, an den Bodensee, der es auf mehr als 47 Milliarden Kubikmeter Volumen schafft.
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Die Pläne für den zweitgrößten See Deutschlands
Dennoch: der Hambacher See wäre immer noch groß und würde die Landschaft enorm verändern. Die Idee für ihn ist nicht neu, schon in den 1990er-Jahren ersann man das Vorhaben. Ende 2024 will man anfangen mit dem Bau der notwendigen Pipelines und Pumpen, 2030 soll das erste Wasser fließen. Es soll zum Großteil dem Rhein entnommen werden, so der Plan von RWE und der Bezirksregierung Köln. Auch der Tagebau Garzweiler soll mit Rheinwasser gefüllt werden, für den Tagebau Inden plant man eine Entnahme aus der Rur. Für alle Seen soll aber teilweise auch das bereits vorhandene Grundwasser genutzt werden, das zumindest ansatzweise nach Ende des Betriebs der aktuell laufenden Pumpen die Gruben wieder auffüllen wird.
Schon nach zehn Jahren Flutung soll der See erstmals nutzbar sein, vollendet wäre das Projekt planmäßig innerhalb von etwa 40 bis 60 Jahren. Statt der jetzigen Mondlandschaft befände sich hier dann ein Wasser-Naherholungsgebiet. „Dann gibt es hier Wassersport, man kann segeln, surfen oder baden und es gibt natürlich auch Bereiche für den Naturschutz“, so RWE-Sprecher Steffen. „Wir werden dort Resorts sehen, Marina, Cafés, Strandbars und Hotels.“ Ein kleiner Bodensee nahe Köln – das hört sich zunächst nach einem schönen Plan an. Doch wenn es nach den Anwohnern geht, soll das Vorhaben gestoppt werden. Warum?
Kritik der Anwohner am Hambacher See
Die größte Sorge der Anwohner bezieht sich gar nicht auf den fertig erbauten See – sondern auf den Weg dorthin. Denn vor allem die Großbaustelle weckt die Befürchtung von zu viel Lärm und Verkehr großer Bau-Fahrzeuge, zudem sei derzeit keine Entschädigung für Gastromen geplant, die durch die Baustelle Kunden verlieren könnten. Auch wird eine Gefahr für das Ökosystem gesehen. Zwar werden die Rohre, um die gigantische Grube mit Rheinwasser zu füllen, unterirdisch verlegt. Doch ein 70 Meter breiter Streifen wird für die Bauarbeiten dennoch auf der gesamten Länge benötigt. Was im Falle eines geplatzten Rohrs passiert, wenn Wasser möglicherweise ungebremst austritt, scheint ebenfalls, nach Meinung der Anwohner, nicht komplett geklärt.
Und nicht zuletzt besorgt auch das Wasser selbst die Anwohner. Konkret: die Wasserqualität. Laut der Stadt Dormagen „merkten einige Bürgerinnen und Bürger kritisch an, dass sich das Rheinwasser qualitativ nicht für eine Befüllung eigne.“ Tatsächlich hat sich die Wasserqualität im Rhein zwar in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert, an vielen Stellen wird aber dennoch vom Baden weiterhin abgeraten, etwa wegen Zuflüssen von Klärwasser. Doch die Sorgen teilt man bei RWE nicht. „Voruntersuchungen haben gezeigt, dass das Rheinwasser für die Befüllung der Tagebauseen geeignet ist und die sich einstellende Seewasserqualität vielfältige Nutzungen zulassen wird. Die Qualität des Wassers im Rhein hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark verbessert. Das wird sicher so weitergehen“, so Steffen.
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Vorbild Lausitzer Seeland
Dennoch kann man bei RWE viele Bedenken der Anwohner nachvollziehen und hat auch Verständnis. Man arbeite aktuell etwa an fairen Entschädigungen für Anwohner, deren Grundstücke von den Bauten der Pipelines betroffen wären. Auch nehme man Bedenken zur Optik des acht Meter hohen und 40 Meter breiten Pumpwerks ernst und arbeite derzeit an einer Integration in die Landschaft. Doch das gesamte Projekt überdenken? Das stehe außer Frage. „Es gibt keine Alternative, als den Tagebau mit Wasser zu befüllen. Das ist auch nichts Neues, allein im Kölner Umkreis gibt es 53 Seen, die ehemals Tagebaue waren. Viele sind heute beliebte Ausflugsziele“, so Steffen.
Auch ein Blick auf die andere Seite des Landes, in den Osten Deutschlands, zeigt, dass eine Renaturierung alter Tagebaue in Seen bei vielen gut ankommt. Ein Beispiel: das Lausitzer Seenland. Hierbei handelt es sich komplett um ein künstlich angelegtes Seengebiet, erschaffen durch das Fluten stillgelegter Braunkohlentagebaue. Bis Ende dieses Jahrzehnts soll hier Europas größte künstliche Wasserlandschaft entstehen. Schon jetzt floriert der Tourismus: Wo einst, wie noch heute in Hambach, Bagger und Kräne inmitten karger Landschaften standen, gibt es nun Hotels und Pensionen, Gasthöfe und Ferienwohnungen, Camping- und Wohnmobilstellplätze. Im Vor-Corona-Jahr 2019 machte die Region laut dem Deutschen wirtschaftswissenschaftliche Institut für Fremdenverkehr (dwif) 265,4 Millionen Euro Bruttoumsatz allein durch den Tourismus.
Guido Steffen wundert das nicht: „Menschen wollen solche Landschaften, um sich mit der Natur verbunden zu fühlen.“ Er hofft, Entwicklungen wie in Ostdeutschland auch am Hambacher See zu sehen. Denn: „Die Menschen wollen solche Seen. Und wir möchten das Kapitel Braunkohle in der regionalen Geschichte schon in wenigen Jahren ordentlich abschließen – mit einer hochwertigen, nachhaltigen Gestaltung der Landschaft nach dem Bergbau. Und dazu gehören die Tagebauseen.“