10. November 2016, 13:27 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Berliner Streetart? Das ist viel mehr als die East Side Gallery! TRAVELBOOK zeigt die schönsten Wandbilder der Hauptstadt. Manche sind Popart pur, andere haben eine politische Botschaft. Und man findet sie schon lange nicht mehr nur in Kreuzberg, Mitte und Friedrichshain.
Tausende von Kneipen und Bühnen, die Technoszene, das Überangebot an Museen und Sehenswürdigkeiten, schon klar. Aber auch die riesige Streetart-Szene in Berlin ist allein für sich genommen eine Reise in die Hauptstadt wert. Große Stars wie Banksy, Tristan Eaton, BLU und viele andere international bekannte Künstler haben sich schon auf den Häuserfassaden, Ruinen und Mauern der Stadt verewigt.
Sie kommen aus Brasilien, Italien, Frankreich und den USA, weil die Stadt nicht nur unendlich viele Flächen für ihre Kunst bietet, sondern Streetart hier auch absolut salonfähig und profitabel ist. Die großen Sprayer müssen nicht bei Nacht und Nebel arbeiten. Sie werden von Hotels, Firmen, Vereinen und vor allem von Kunstfestivals beauftragt und dafür bezahlt, sich in der Stadt auszutoben. Kuratorin und Künstlerin Yasha Young, die 2017 in Berlin Deutschlands erstes Streetart-Museum, „Museum for Urban Contemporary Art“, eröffnen wird, beschreibt den Appeal der Hauptstadt im Interview mit TRAVELBOOK so: „Ich glaube, es ist die einzigartige Mischung, die Berlin so beliebt macht. Eine lange, bewegte Geschichte voll von Avantgarde-Bewegungen und Rebellen, eine Stadt mit völlig unterschiedlichen Kiezen, ein Ort überfüllt von Kunst, an dem Künstler auch ohne viel Geld leben und arbeiten können.“
Schön und politisch zugleich
Abseits der East Side Gallery und dem RAW-Gelände an der Warschauer Brücke lassen sich die berühmtesten Wandbilder wohl in den Bezirken Mitte und Kreuzberg finden: Eines der bekanntesten ist das 2007 entstandene Murial „Astronaut Kosmonaut“ des französischen Künstlers Victor Ash zwischen dem Kottbusser Tor und dem Görlitzer Bahnhof. Ganz in Schwarzweiß schwebt einem hier das sehr detailverliebte Bildnis eines Raumfahrers mit ausgestrecktem Arm entgegen.
Ash wählte dieses Motiv, um den Kalten Krieg und den damaligen Raumfahrt-Wettlauf der USA und Russland symbolisch darzustellen. Das Werk befindet sich passenderweise auch an der ehemaligen Grenze des US-amerikanischen und des sowjetischen Sektors.
Vom Berliner Streetart-Duo Various&Gould gibt es ein wesentlich farbenfroheres Werk am Moritzplatz: Die Spezialität der beiden Absolventen der Kunsthochschule Weißensee ist die Kombination von Siebdruck, Popart und Collage.
Das 320 Quadratmeter große Porträt ist Teil ihrer Serie Facetime, bei der es dem Duo darum geht, Patchwork-Identitäten aus verschiedenen Gesichtern zu erschaffen.
Nicht weit entfernt hinter der Kreuzberger Oberbaumbrücke kann man ein Kunstwerk vom weltweit gefeierten, italienischen Streetart- und Videokünstler BLU bewundern. „The Pink Man“ erscheint auf den ersten Blick als ein riesiges, fleischfarbenes Monster. Geht man näher heran, sieht man, dass es aus Hunderten von nackten, vor Schrecken und Angst gezeichneten Menschen besteht, die sich aneinander klammern und übereinander hinwegklettern.
Das Monster, das sie zusammen bilden, verschlingt die einzige Gestalt, die individualistisch ist, und versucht zu entkommen. Ein Sinnbild für den Faschismus.
Internationale Zusammenarbeit
Am Gleisdreieck ist ein ein Streetart-Projekt zu sehen, an dem Dutzende Künstler beteiligt waren. Das Wandbild „Aufstand der Farben“ ist Teil einer Serie, bei der südamerikanische und deutsche Künstler politische Streetart kreieren. Zu sehen ist das riesige Mural an der Außenwand des Mercure Hotel Berlin Mitte, Schöpfer sind die drei lateinamerikanischen Graffiti-Künstler Shamaniko, Hechiza und Somos sowie der deutsche Künstler UKI.
Ein weiteres berühmtes Graffiti in Mitte ist das 2014 entstandene, fotorealistische Mural „Unter der Hand“ vom Frankfurter Künstler Andreas von Chrzanowski, auch bekannt als CASE Maclaim.
In Berlin sind übrigens nicht nur die riesigen Murals, sondern auch kleine, verborgenere Kunstwerke überall zu entdecken. Ein gutes Beispiel hierfür ist dieser kleine Hund auf einem zuvor ziemlich farb- und freudlosen Stadtmülleimer:
Der brasilianische Streetart-Künstler „Pinsel“ gestaltet seit 2007 „Streetart zum Mitnehmen“, oder „obdachlose Kunst“, wie er es selbst auch nennt. Die Idee ist, kleine Kunstwerke auf Holztafeln zu malen und diese Tafeln dann überall in der Stadt anzubringen, damit sie jemand nach Hause mitnehmen und bei sich aufhängen kann. „Ich mache Streetart aus allem, was ich auf der Straße finde: Holzbretter, Drähte, Müll“, sagt „Pinsel“ im Interview mit TRAVELBOOK. „Und ich mache sie für alle. Kinder sollen meine Sachen genauso mitnehmen können wie Erwachsene. Streetart ist Kommunikation mit der ganzen Stadt.“
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Auch in den bei Touristen weniger beliebten Stadtteilen Treptow-Köpenick, Wedding und Schöneberg sowie im als mittlerweile als gentrifiziert geltenden Bezirk Prenzlauer Berg findet sich wunderbare Streetart.
Zum Beispiel von dem US-amerikanischen Künstler Tristan Eaton, der neben seiner Leidenschaft für Wandbilder auch schon Design-Aufträge für das Modeunternehmen Versace und für Barack Obamas Wahlkampfkampagne angenommen hat. An der Hausnummer „Am Friedrichshain 33“ im Prenzlauer Berg prangt sein Werk „Attack of the 50 Foot Socialite“, eine Interpretation des Science-Fiction-Klassikers „Attack of the 50 Foot Woman“ aus den 1950er-Jahren.
Schon älter, aber auch umso ikonischer ist die Serie „Wrinkles“, ebenfalls im Prenzlauer Berg, vom französischen Sreetart-Künstler und Fotografen JR (Juste Ridicule).
Rund um den U-Bahnhof Bülowstraße in Schöneberg wurden ganze Straßen von renommierten Streetart-Künstlern verschönert, so zum Beispiel mit dem Piece „Forget“ von dem irischen Urban Artist Fin DAC und einer Collage von PHLEGM. In Schöneberg wird auch Yasha Youngs Sreetart-Museum eröffnen.
Ein Vorwurf, den sich Young häufig anhören muss, ist das Abdriften einer einst sehr anarchistischen Kunst in den Mainstream. Doch Young freut sich über Kritik: „Wenn es keine kritischen Stimmen gäbe, wäre ich besorgt. Unsere Kunst adaptiert ständig Veränderung und erfindet sich immer wieder neu. Nicht jeder ist dafür bereit oder versteht, was wir tun, aber ich glaube, dass später sehr viele Menschen unsere Arbeit anerkennen werden.“
In der Gerichtstraße im weiter nördlich gelegenen Bezirk Wedding gibt es seit 2013 auch eine Open-Arts-Streetart-Galerie zu bestaunen, die kaum ein Tourist kennt. Das gesamte Gebiet um den Weddinger Fluss Panke herum ist zu einem Sprayer-Paradies geworden.
Eine absolute Kult-Adresse liegt weiter im Osten der Stadt, im Bezirk Treptow-Köpenick: In der ehemaligen Bärenquell Brauerei, die auch zu einem Pilgerort für Fans von verlassenen Orten geworden ist, weiß man gar nicht, wohin man zuerst schauen soll.
Hier findet man keine großen Stars der Streetart-Szene, sondern anonyme Künstler, die verwahrloste Flächen in etwas Kreatives, Schönes oder Politisches verwandeln, ohne dafür irgendeine Form von Anerkennung, Belohnung oder Ruhm zu bekommen.
Ein ähnliches Beispiel ist der Teufelsberg im Grunewald, am anderen Ende der Stadt:
Im Kontrast zu den Villen der Reichen und Berühmten am Fuße des Hügels findet man oben eine ehemalige Abhörstation der Amerikaner. Das Areal drumherum ist schon lange ein Anlaufplatz für Streetart-Künstler geworden.