26. Juni 2024, 11:04 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Das Stadtzentrum von Berlin scheint auf zahllose Menschen aus aller Welt eine geradezu magische Sogwirkung zu haben. Nicht so auf unseren Autor. Er hat all die Orte, an denen sich jetzt zu jeder Tages-und Nachtzeit Menschen tummeln, noch in einem „Vorher“-Zustand erlebt. Und meidet heute das in seinen Augen „neue“, hippe Berlin um jeden Preis.
Kürzlich brachte mich jemand in eine ziemliche Zwickmühle. Ich bekam eine Einladung zu einer Abschiedsfeier, die ausgerechnet im Stadtzentrum von Berlin, nahe dem Alexanderplatz, stattfinden sollte. Lange haderte ich. Denn ich muss es als gebürtiger Berliner hier einmal klar sagen: Ich hasse heute viele Dinge an meiner Heimatstadt. Und das Zentrum steht für mich symbolisch für einen Vorhof der Hölle, den ich normalerweise nicht mehr freiwillig besuche.
Nun muss ich zu diesem Missfallen an dem für mich „neuen“ Berlin vielleicht vorab einiges erklären. Ich bin sehr stolzer Spandauer, stamme also aus einem Bezirk, von dem sowohl Innenstädter als auch vor fünf Minuten Zugezogene unisono sagen, dass sei doch gar nicht mehr Berlin. Und in dieser Peripherie wohne ich noch einmal am äußersten Rand. Mit dem Rad bin ich in fünf Minuten in Brandenburg – ja, ich kann im Sommer sogar rüber schwimmen. Das Haus, in dem ich eine Mietwohnung habe, steht in einem Wald, der sauberste See der Stadt ist fünf Minuten Fußweg entfernt.
Natur statt RAW-Gelände
Zehn Minuten weg mit dem Rad liegt Alt-Kladow, der Kern meines Dorfes, das erstmals vor mehr als 750 Jahren erwähnt wurde. Hier liegt mit dem Wannsee ein weiteres tolles Gewässer, das an die herrliche Havel anschließt. Mit Sacrow, seinem wunderschönen Gutspark und der weltberühmten Heilandskirche über dem Wasser sind weitere, sogar bei Berlin-Touristen beliebte Highlights, nur ein paar weitere Fahrtminuten entfernt. Sprich, ich habe hier eine ganze kleine Welt, in der trotz nähe zur Stadt immer noch eine wunderbare Natur dominiert und ich meine Lebensmittel mitunter sogar noch frisch vom Bauern bekomme. Ahnen Sie langsam, warum das Stadtzentrum mir nichts mehr bieten kann?
Dabei war es durchaus nicht immer so, dass ich die Innenstadt von Berlin so verabscheut habe wie heute mitunter. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit als Jugendlicher, als ich mir mit dem Skateboard unter den Füßen und meinen Freunden diese magische neue Welt jeden Tag neugierig und staunend ein Stück weiter erschloss. Schon eine Fahrt zum Kudamm erschien mir als Kladower damals wie eine Weltreise. Ich erinnere mich an Nächte an der Warschauer Straße, als man über die Gleise bis zum Horizont gucken konnte, und dort absolut nichts war. Keine Mercedes Benz-Arena, keine East Side Mall, kein RAW-Gelände, einfach nichts. Also, nichts bis auf das Matrix, das Nontox und Die Busche, die es zum Teil heute noch gibt.
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Der schönste Teil war die Heimfahrt
Doch schon damals war der schönste Teil der Nacht für mich eigentlich immer die stundenlange Heimfahrt zurück nach Kladow. Diese dauerte dank der BVG mitunter sogar erheblich länger, als wir überhaupt feiern gewesen waren – nun ja, das, was man eben damals noch feiern nannte. Und wenn ich dann zurück war in der Sicherheit meines heimatlichen Kokons, nicht selten ging die Sonne schon auf, dachte ich zufrieden, aber auch mit einem leichten Schaudern zurück an das Abenteuer der vergangenen Nacht. Ich dachte an das Zentrum von Berlin, dessen Füllhorn an Versuchungen ich wieder einmal erfolgreich entronnen war, und ein Gefühl von Dankbarkeit erfüllte mich. Ich hatte meinen Eintritt für die Zirkusvorstellung bezahlt, sie auch genossen, aber jetzt war ich wirklich wieder zu Hause.
Offensichtlich und für mich zum Negativen zu verändern begann sich Berlin dann 2006 nach der Fußball-WM. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ und ein märchenhafter Monat mit traumhaftem Sommerwetter hatten die Stadt plötzlich auf den Radar von auch wirklich noch dem allerletzten Reisenden katapultiert. Denn ja, damals waren die Mieten und der Eintritt in Clubs noch günstig, es existierte womöglich sogar noch ein letzter Hauch jenes Berlins der 1970er- und 1980er-Jahre, dessen Mythos Alt-Hippies nostalgische Tränen in die Augen treibt. Berlin schien einfach ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein, an dem jeder friedlich und frei in seinem ganz eigenen Takt leben konnte. Nicht einfach nur für ein Wochenende, sondern als neue Heimat, so dachten damals wohl unzählige Menschen.
Zu große Egos
Das Problem an einem Ort, an dem jeder versucht, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben, ist aber, dass Träume mitunter auch miteinander kollidieren können. Und so wurde es im Stadtzentrum immer lauter, noch hektischer und schnelllebiger, und ich verlor irgendwann die Lust, mit diesem Takt noch mitzuhalten. Denn ein weiteres Problem war leider auch, dass in den Folgejahren auffallend viele Menschen nach Berlin zogen, deren Ego viel zu groß war für den Ort, aus dem sie eigentlich kamen. Diese Egos versuchten dann hier, einen maximalen Raum zu beanspruchen, und das leider häufig auch ohne jede Rücksicht auf ein friedliches Miteinander. Ich sage es ganz deutlich: Berlin ist für mich die Welthauptstadt des Hedonismus, und dieser zeigte mir immer häufiger seine hässliche Fratze.
Denn, für mich scheinbar plötzlich, begann das Stadtzentrum von Berlin für erschreckende Schlagzeilen zu sorgen. Hier wurde ein schlafender Obdachloser angezündet, dort ein armer Junge im Streit von einer Gruppe totgetreten, da ein Jugendlicher am helllichten Tag vor einem Supermarkt wegen eines Fußballtrikots erstochen. Nehmen wir noch dazu noch den Terror, der neben anderen Städten 2016 auch Berlin erschütterte. Und, ganz banal, war ich als Dorfjunge auch noch nie ein Fan der Menschenmassen, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Innenstadt wälzen. Auch das so ein Beispiel, die öffentlichen Verkehrsmittel sind trotz Minutentakt meist hoffnungslos überfüllt. Und dann packt garantiert irgendwo im Abteil jemand seinen Döner aus, weil er die BVG mit seinem Wohnzimmer verwechselt.
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Razzien und Hundekot
Über die Hundehaufen auf wirklich jedem Innenstadt-Bürgersteig, die Hundebesitzer nicht beseitigen, weil es ihnen, nun ja, sch…egal ist, muss ich an dieser Stelle sicher nichts mehr schreiben. Die regelmäßigen Drogen-Razzien in Parks wie der Hasenheide, dem Mauerpark oder dem „Görli“? Geschenkt, solche Schlagzeilen schockieren anscheinend viele Wahl-Berliner nicht mehr. Die Tatsache, dass anscheinend jeder seinen Müll mitten auf der Straße zu entsorgen scheint? All das verstörte mich mit den Jahren mehr und mehr, und so wurden meine Besuche in jenen Bezirken von Berlin, von denen die gesamte Touri-Welt träumt, immer seltener.
Den Todesstoß erhielt meine Beziehung zur Berliner City dann mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Seitdem genieße ich als freier Journalist das Privileg des Vollzeit-Home-Office, und habe meinen ländlichen Teil der Stadt noch mehr lieben gelernt. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, morgens sämtliche Nachbarn zu kennen und zu grüßen, und wo wäre das in der Innenstadt noch denkbar? Und nun, mit mittlerweile 40 Jahren, brauche ich die Versuchungen des coolen Berlin auch einfach nicht mehr. Pilze sammeln gehen oder angeln ist jetzt mein neues Feiern, und ich treffe immer mehr Leute, die mich darum beneiden. Es ist ja kein Zufall, dass dank großstadtmüden Berlinern mittlerweile die Uckermark, immer noch einer der am dünnsten besiedelten Landstriche in ganz Deutschland, als neues Sehnsuchtsziel gilt.
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Der Zirkus bleibt draußen
Auch wenn die hippen Wahl-Berliner sicher noch längst nicht alle müde sind vom Hype um sich selbst, ändern sich doch die Zeichen der Zeit. Beredtes Zeugnis davon ist leider, dass die Mieten auch bei mir auf dem Dorf in den vergangenen Jahren schier explodiert sind. Vor 35 Jahren roch es hier beim Bauern noch nach Gänsekot, heute gibt es schicke Lofts mit Blick auf die Havel. Und ja, natürlich findet man mich mitunter noch in der Berliner Innenstadt, aber der Modus Operandi hat sich verändert. So liegen zum Beispiel ausgerechnet an einem der für mich furchtbarsten Orte Berlins, der Eberswalder Straße, gleich zwei Läden, die ich regelmäßig besuche. Doch es hilft ja nichts, will ich guten Käse und Schinken haben, muss ich eben dorthin.
Doch genau wie früher stellt sich dann bei mir nach einem Innenstadt-Besuch ein herrliches Gefühl des Friedens und der Ruhe ein, sobald ich wieder in Spandau bin. Hier, wo ich den Rhythmus meines Lebens noch selbst bestimmen kann und nicht schon morgens schlechte Laune habe, weil ich mich mit unzähligen anderen Unglücklichen in die öffentlichen Verkehrsmittel quetschen muss. Bitte kommen Sie jetzt aber nicht auf die Idee, plötzlich doch einmal Spandau besuchen zu wollen. Wir sind hier ziemlich zufrieden mit unserem Außenseiter-Status, der die Berlin-Touristen weitestgehend fern hält. Glauben Sie mir, das Image als Graue Maus ist in Wahrheit hart erarbeitet. Auf diese Weise können wir einfach weiterhin frei wählen, wann wir in den Zirkus gehen wollen. Aber der Zirkus kommt nur selten zu uns. So darf es gerne bleiben.