21. September 2019, 16:48 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Armenhaus, Bettlertrauben, Dreck und Lärm ohne Ende? Viele Menschen haben eine klare Vorstellung von Kalkutta. Doch weit gefehlt: die Metropole im Osten Indiens hat viel mehr zu bieten. Eindrücke aus einer bunten und lebendigen Stadt.
Tak. Tak tak tak. Klackende Geräusche erfüllen die Arkaden gegenüber des Gerichtsgebäudes. Tak tak. Tak tak. In der indischen Metropole Kalkutta gehören Schreibmaschinen zum Alltag. Arbeit wird in der Stadt im indischen Bundesstaat Westbengalen im Freien erledigt, auch vieles andere findet in der Öffentlichkeit statt. Nicht weit entfernt von den klackernden Schreibmaschinen stehen Blechtöpfe in Garküchen auf großer Flamme, Männer seifen sich an einem öffentlichen Brunnen ein.
Stadt voller Erinnerungen
Als der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835 bis 1910) nach Kalkutta kam, skizzierte er die damalige Hauptstadt Britisch-Indiens und Bengalens als „schöne Stadt“, „reich an geschichtlichen Erinnerungen und reich an britischen Errungenschaften“. Heute fällt vielen bei der Metropole, die offiziell Kolkata heißt, als erstes Mutter Teresa (1910 bis 1997) ein. Die Ordensschwester kümmerte sich in Kalkutta um die Armen und prägte damit auch das Bild der Stadt nachhaltig. Allerdings ist Kalkutta mehr als nur Armut.
Die Stadt ist lebendig und lebensfroh. Überall begegnet man einem Lächeln, an Markt- und Straßenständen, in Linienbussen, in der Metro. Gegenüber Fremden sprühen die Einheimischen vor Neugier, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit. Die Herzlichkeit ist manchmal überraschend: Als ein alter Mann erfährt, dass der Besucher aus Deutschland kommt, beschenkt er den Fremden mit einer innigen Umarmung und sagt „Steffi Graf“.
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Hupen aus Langeweile
Die Lebendigkeit drückt sich auch in der Betriebsamkeit aus, zum Beispiel früh morgens auf dem Blumenmarkt, wenn sich schwer beladene Lastenträger ihre Wege durchs Gedränge bahnen. Oder jederzeit auf der Howrah Bridge, einer der meistfrequentierten Brücken Asiens. Täglich sollen es über eine Million Menschen sein, die auf der Brücke in Linienbussen, Taxis, Lastern, Autos, zu Fuß, mit Karren oder Rädern über den Hooghly, einen Mündungsarm des Ganges ziehen. Begleitet von Hupkonzerten. Denn Hupen ist für viele Autofahrer ein Zeitvertreib.
Besonders laut ist es in der AJC Bose Road. Fast jedes Auto hupt vor dem Stammsitz der Missionarinnen der Nächstenliebe, wo Begründerin Mutter Teresa ihre letzte Ruhe fand. Bis zum ihrem Grab dröhnt der Lärm. Selbst in dem Museumsraum, wo man mehr über das Leben der Friedensnobelpreisträgerin erfährt, ist der Lärm zu hören. Ehrfürchtig harren Gläubige vor persönlichen Gegenständen in Vitrinen aus, einem Taschentuch der Heiligen, ihrer grauen Reisetasche, Spritzen und Nadeln in einem Kästchen für ihre Bluttests, den Sandalen. Schwarzweißfotos zeigen eine junge Frau, die man sonst nur als alt, klein und gebückt in Erinnerung hat: Agnes Gonxha, lange bevor sie Mutter Teresa wurde.
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Kalkutta ist nicht nur laut
Es gibt auch leise Ecken, das Töpferviertel Kumartuli zum Beispiel. Hier zeigt sich die Millionenstadt von der ländlichsten Seite, ein Kalkutta mit Dorfcharakter. In kühlen, kleinen Werkstätten formen Künstler wie Shankar und Bhola Paul Skulpturen in Klein- und Großformat. Für den Hausgebrauch, Feste und Museen. Hindugötter sind bei den Motiven ebenso vertreten wie Mahatma Gandhi. Das Rohmaterial liefert der Schlamm des Ganges, respektive sein Arm Hooghly. Bhola Paul braucht für ein kleines Tonbildwerk eine Stunde wie er sagt. Begonnen hat er mit acht Jahren. Alles ist in diesem dörflich anmutenden Teil der Metropole Handarbeit. Das gilt für Schneiderstuben ebenso wie für Openair-Barbiere, Zuckerrohrpresser und Schuhmacher.
Stille findet man auch im Botanischen Garten, in der anglikanischen Kirche St. John’s, in den Parkanlagen beim Königin Victoria Memorial, am Fluss beim Hindutempel Dakshineswar Kali. Dort tauchen Menschen in die trübe Brühe des heiligen Gangeswasser, füllen Kanister und Flaschen für daheim ab, beten. So wie Dhar Souvik, Assistent in einer Dentalklinik. Heute ist er zum Tempel und an die Ufer gekommen, weil es seinem Vater schlecht geht. Er bittet um Besserung seines Zustands, blinzelt über dem breiten Strom in die untergehende Sonne und sagt: „Hier spüre ich Frieden, eine tiefe Entspannung.“