7. Oktober 2019, 15:22 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Berlin ist die unfreundlichste Stadt der Welt – das geht aus dem großen TRAVELBOOK-Voting hervor. Die Berliner sollen unfreundlich sein? Völliger Unfug, findet unser Autor. Die Hauptstädter seien einfach nur ehrlich, aber leider könne nicht jeder damit umgehen. Ein Meinungsstück mit Herz und Schnauze.
Sie hat schon fast Legenden-Status, gehört in den Berlin-Erinnerungen zahlloser Menschen aus aller Welt genauso zum Stadtbild wie die Siegessäule oder das Brandenburger Tor: Die Berliner Schnauze. Von vielen auch als Berliner Unfreundlichkeit verkannt. Es heißt, wir Berliner seien im Umgang mit unseren Mitmenschen besonders ruppig, fast jeder erinnert sich scheinbar an mindestens eine Episode mit einem kodderschnäuzigen Hauptstädter.
Höchste Zeit, mal mit einem der hartnäckigsten (deutschen) Vorurteile aufzuräumen, denn wir Berliner sind nicht unfreundlich – wir sind einfach nur direkt! Wir sagen meist frei und ehrlich heraus, was wir eben gerade denken, ob nun von einer bestimmten Sache oder über eine Person. Nun sagt man zwar einerseits „ehrlich währt am längsten“, doch offenbar kann längst nicht jeder mit der direkten An- bzw. Aussprache von uns Eingeborenen umgehen.
Zu viele Empfindlichkeiten
Das verwundert zunächst auch einmal nicht, leben wir doch in einer Gesellschaft, die jedwedes Diskussionsthema am liebsten erst einmal fest in extra dicke Watte einpackt, bevor es überhaupt angeschnitten wird. Aber nicht mit uns Berlinern, denn die Hauptstadt ist eine Realität, die oft keinen Platz lässt für Rosa-Brillen-Romantik: Laut, dreckig, hektisch, und leider werden die Ellenbogen hier immer öfter nicht nur rhetorisch ausgefahren.
Hier geht’s zu dem Voting, in dem Berlin zur unfreundlichsten Stadt der Welt gewählt wurde
Und jetzt mal ehrlich: Wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, in der die Rücksichtnahme auf jede noch so absurde Befindlichkeit nicht selten ins Lächerliche abdriftet, eine Zeit leider oft verlogener Political Correctnes, die mit der Wirklichkeit oft überhaupt nichts mehr zu tun hat. Da finde ich persönlich, es ist das gute Recht jedes Menschen zu sagen, jetzt mal auf Berlinerisch: Den Scheiß mache ich nicht mehr mit! Doch angesichts solcher Strukturen mag es kaum verwundern, dass Ehrlichkeit mit Unfreundlichkeit verwechselt wird.
Attraktiv durch Ehrlichkeit
Harte Schale, weicher Kern – das ist wohl ein Bild, das auf die meisten Berliner zutreffen dürfte. Wir leben in der bei Weitem größten Stadt Deutschlands, und so müssen wir uns eben manchmal durch eine direkte ehrliche Ansage vor der physischen Enge schützen, die zu viele Egos auf demselben Fleck nun mal produzieren. Das wird dann leider nur allzu oft als Unfreundlichkeit missverstanden. Eine Frage wird an dieser Stelle dann aber doch erlaubt sein: Wenn Berlin so unfreundlich ist, warum wollen dann gefühlt alle anderen Menschen auf der Welt in unserer Stadt leben?
Die Antwort ist für mich einfach: Weil Berlins Ehrlichkeit authentisch ist, und weil Menschen gerne ehrlich sind, oder mit anderen Worten: Weil sie gerne sie selbst sind. In wohl keiner anderen Stadt weltweit ist eine derart kompromiss- und grenzenlose Selbstverwirklichung möglich, und das eben auch, weil hier kaum jemand ein Blatt vor den Mund nimmt. Dadurch kann man zwar mitunter auch so manchen verprellen, aber zumindest kann hinterher niemand sagen, er habe nicht gewusst, was Sache ist.
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Erfrischend anders
Ehrlichkeit ist, ehrlich gesagt, eine Eigenschaft, die meiner Meinung nach in der modernen Gesellschaft oft keinen Platz mehr findet, Beispiel Werbung oder Social Media: Um Aufmerksamkeit zu generieren, werden Dinge maßlos beschönigt, man denke nur an durch tausende Filter gejagte Bilder auf Instagram oder Slogans, die auch noch die teuflischste Firma aussehen lassen sollen wie einen Knabenchor.
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Eine Vermutung, warum wir Berliner oftmals als unfreundlich dargestellt werden: Die Kritiker sind einfach neidisch, denn Dinge ehrlich auszusprechen ist eine Freiheit, die zu nehmen man sich trauen muss – und das in Zeiten eines drastisch gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses, in denen der Einzelne oft das Gefühl hat, lieber nichts zu sagen als zu viel. Die Berliner Ehrlichkeit ist dabei bitte keinesfalls zu verwechseln mit dem rauen Umgangston, der leider mittlerweile vielerorts auf unseren Straßen herrscht, oft gepaart mit deftiger Fäkalsprache – das ist einfach nur schlechtes Benehmen.
Es stimmt: Wer nach Berlin kommt, muss sich etwas wärmer anziehen als in anderen Städten, denn ja, hier ist der Umgangston oft rau. Jetzt könnte man natürlich sagen, wer das nicht aushält, soll halt nicht kommen – aber das ist auch nicht das, was wir Berliner wollen. Unsere Stadt ist ja auch deshalb so attraktiv, weil hier so viele Menschen aus aller Welt sich wohlfühlen und uns mit ihrer Kultur bereichern. Dafür kann man doch ab und zu mal ein bisschen Gemecker aushalten, oder? Oh, ich meinte natürlich ein bisschen Ehrlichkeit.