9. Januar 2019, 12:02 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Neukölln ist hip, angesagt und cool – doch nur für Touristen und Zugezogene. Die Wahrheit hinter der Fassade: Neukölln ist überfüllt, vermüllt und voller Egos. Ein Kommentar von einem, der den Bezirk mittlerweile bewusst meidet.
„Neukölln ist ja sooo cool!“ – „Ich bin gerade nach Berlin gezogen, nach Neukölln.“ Diese oder ähnliche Sätze hört man in Berlin mehr oder weniger täglich, und egal, mit wem man spricht, jeder ist verzaubert von Berlins selbsternanntem Szene-Viertel, wo scheinbar immer gefeiert und nie gearbeitet wird. Und dann auch noch das: Der Reiseführer „Time out“ hat Neukölln unter die 50 coolsten Viertel der Welt gewählt, und zwar gleich in die Top Ten, auf Platz 7. An dieser Stelle wird es höchste Zeit, einmal eines klar zu stellen: Neukölln ist nicht cool, sondern nervt einfach nur.
Der Fairness halber muss man sagen, dass ich ein 35-jähriger, glühend stolzer Spandauer bin – einer also, zu dem selbst vor fünf Minuten zugezogene Wahl-Neuköllner sagen würden, das sei doch gar nicht Berlin. Genauso wenig ist aber Neukölln Berlin, zumindest nicht, wenn man bedenkt, dass dort kaum mehr ein echter Berliner lebt bzw. leben möchte. Neukölln verkörpert sinnbildhaft alles, was für uns „Gebürtige“ in der Stadt momentan gehörig falsch läuft: horrende, ständig steigende Mieten, lärmende Party-Touris, die denken, sie würden sich mit ihren Devisen Narrenfreiheit erkaufen, vermüllte Straßen und Parks, in die sich nachts wahrscheinlich nicht einmal mehr die Drogendealer trauen, die tagsüber so zahlreich im Park Hasenheide ihre „Ware“ anbieten.
Was ist cool an Müll und Hundescheiße auf den Straßen?
Es ist ein Gefühl der Befremdung, das mich jedes mal überkommt, wenn ich dann doch einmal nach Neukölln fahre – meist, um fehlgeleitete Freunde zu besuchen, die es hierhergezogen hat. Ich verstehe es einfach nicht: Warum finden es Leute cool, wenn überall Hundescheiße rumliegt und jeder seinen Müll einfach auf die Straße zu werfen scheint? Was ist cool an Cafés, die irgendwelchen heruntergekommenen Sperrmüll als Sitzgelegenheiten deklarieren und deren Räumlichkeiten aussehen, als hätte gerade eine Abrissbirne darin gewütet? Wo liegt das Coole an zu jeder Tageszeit hoffnungslos verstopften Straßen, auf denen Bürgerkrieg zwischen Fußgängern, Radlern und Autofahrern herrscht? Was ist cool daran, dass ich zwar an jeder Ecke einen entkoffeinierten Latte mit Fair-Trade-Bohnen aus Guatemala für 4,50 Euro bekomme, aber nur schwer ein ehrliches Schultheiss-Bier aus Berlin?
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Es gehört scheinbar zum Duktus der Coolness, etwas Wildes, Raues, mithin „Authentisches“ für cool zu erklären – und Neukölln verkörpert für viele offenbar dieses Authentische. Schon der neue Werbeslogan des lokalen Fußballvereins Hertha BSC deutet es an: „In Berlin kannst du alles sein…“ – besonders in Neukölln haben viele diesen Spruch zu ihrem Motto erklärt, doch in Wahrheit müsste er nicht selten heißen: „In Berlin kannst du auch gar nichts sein, sondern einfach nur in den Tag hineinleben und nichts tun, einfach herumhängen und den Leuten großspurig erklären, du wärst Künstler.“
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Na klar, Berlin ist die Stadt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, und das ist das Wunderbare an ihr, doch sie hat meiner Meinung nach mittlerweile folgendes Problem: Sämtliche Menschen, deren Ego zu groß für ihre Herkunftsorte ist, lassen sich bei uns nieder, weil sie in der großen anonymen Masse der Hauptstadt einfach untertauchen und aufgehen können, ohne dass es jemanden stören würde – es sind ja gefühlt schon eine Million andere da, die genau das tun.
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Nonstop-Party ohne Pflichten
Und ein weiteres Problem offenbart sich für mich in Neukölln noch stärker als in anderen Bezirken: Berlin ist mittlerweile eine Projektionsfläche für die Hoffnungen und Träume Hunderttausender meist junger Glücksritter geworden, die jedoch die Stadt nicht wirklich verstehen (wollen), sondern in sie nur etwas hineininterpretieren, das sie nicht ist: eine Nonstop-Party, ohne Pflichten oder soziale Verantwortung. Das reale Berlin platzt derweil aus allen Nähten und hält diesen Utopia-Fantasien kaum noch Stand, ohne dass gefühlt im Minutentakt irgendein Wutausbruch mal wieder die sozialen Medien erschüttert. Egos beanspruchen eben auch einen physischen Raum für sich, und in Berlin ist sich scheinbar jeder selbst der nächste, und nicht wenige reagieren aggressiv auf das Eindringen anderer Meinungen oder Projektionen.
Die Illusion stinkt mittlerweile gewaltig nach Urin, der Abend für Abend von Betrunkenen in Hauseingängen „hinterlassen“ wird, aber dennoch lebt sie weiter, weil ein jeder, der sich als Teil davon fühlt, sie gerne aufrecht erhalten möchte. Wer wäre denn auch nicht gerne cool, hip und anders?
Es ist eine Situation, die man wohl zurecht mit dem Goldrausch in Alaska Ende des 19. Jahrhunderts vergleichen könnte: Abertausende strömten plötzlich und scheinbar wie fremdgesteuert einem neuen gelobten Land zu, doch nur die Wenigsten finden wirklich ihr Glück. Was viele der Neuköllner Goldsucher scheinbar gerne verdrängen, ist, dass Berlin eine extrem hungrige Stadt ist, die mit Vorliebe ihre eigenen Kinder verschlingt. Unzählige, die eigentlich hier studieren oder Karriere machen wollten, hat sie in ihre Clubs und Bars gelockt und nach einiger Zeit völlig verwahrlost wieder ausgespuckt, ich selber kenne mehrere solcher Beispiele für Existenzen, die erst in Berlin gescheitert sind.
Neukölln wird derweil weiter feiern und sich selbst feiern, denn die graue Masse bekommt ja immer wieder problemlos Nachschub an Mitspielern, die sich gerne und freiwillig am russischen Roulette à la Hauptstadt beteiligen möchten. Sollen sie doch – ich bleibe liebend gerne in den von diesen Illusionisten verlachten „Außenbezirken“ und genieße das echte Berlin. Jeder, der mal dringend einen Ausflug in die Realität nötig hat, ist herzlich eingeladen, mich zu besuchen.