2. April 2019, 13:25 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Es sind turbulente Jahre, die Rio de Janeiro und der gleichnamige Bundesstaat hinter sich haben: Fußball-WM 2014, Olympische Spiele 2016, ein abgebranntes Nationalmuseum, Wahlen 2018, dazwischen die üblichen Korruptionsskandale und blutige Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden, Polizei, Milizen. Die traurige Bilanz 2018: 6714 Tötungsdelikte im Bundesstaat, davon gehen allein 1534 auf Konto der Polizei. Seit Januar ist nun ein Gouverneur an der Macht, der diese Zahl noch erhöhen will: Wilson Witzel, ein Politik-Newcomer und Ex-Bundesrichter, der bewaffnete Kriminelle durch Scharfschützen mit Kopfschuss töten lassen möchte und den Tourismus ankurbeln will. TRAVELBOOK traf den neuen Regierungschef des Bundesstaats zum Gespräch und wollte wissen, wie sicher der Zuckerhut zurzeit für Urlauber ist.
Es gibt nichts Leichteres und zugleich Unmöglicheres, als für Rio zu werben. Das weiß auch der neue Gouverneur Wilson Witzel (51), den TRAVELBOOK bei dessen Besuch in Berlin im Rahmen der ITB getroffen hat. Auf der einen Seite die unbestreitbare Schönheit der Stadt und des gesamten gleichnamigen Bundesstaats, die Lebensfreude der Einwohner, die sich selbst inmitten größter Krisen entflammen kann, und das wunderbare Klima. Andererseits: kriegsähnliche Zustände in Armenvierteln, Raubüberfälle und Entführungen, Armut und Elend.
Und dann kam mit Jair Bolsonaro in Brasilien auch noch ein Präsident an die Macht, der die Militärdiktatur glorifiziert, Waffengesetze liberalisieren möchte und offen gegen Homosexuelle und Schwarze wettert. Genau dieser Bolsonaro war es auch, der Wilson Witzel im Bundesstaat Rio de Janeiro an die Macht verhalf. Die beiden haben ähnliche Ansichten, die sich verkürzt wie folgt zusammenfassen lassen mit: Brasilien braucht endlich Recht und Ordnung, alle Politiker vor uns waren korrupt, wir sind anders und greifen jetzt mit aller Härte durch.
Wilson Witzel: „Rio ist jetzt sicherer“
Wie er den Urlaubern aktuell die Angst vor der Kriminalität nehmen möchte, will TRAVELBOOK von Witzel wissen. Der Gouverneur, der seit Januar im Amt ist, verweist auf die Korruption, die in allen Institutionen zu finden ist. Für ihn ist sie die Wurzel allen Übels: „Wenn die Polizei nicht korrupt ist, arbeitet sie viel besser. Die Maßnahmen, mit denen wir nun versuchen, die Qualität der Polizeiarbeit zu verbessern, haben schon dazu geführt, dass die Kriminalitätsraten merklich gesunken sind.“ Dazu zählten laut Witzel unter anderem eine Polizeiaufsicht, die rigoros die Arbeit der Beamten überwacht, sowie eine Behörde zur Bekämpfung der Geldwäsche.
„Rio ist jetzt sicherer“, so der Gouverneur, und ergänzt: Es gehe darum, Militär- und Kriminalpolizei ihre Glaubwürdigkeit zurückzugeben. Wie genau das aussieht, zeigt ein Blick auf die Statistiken: Demnach sinkt derzeit die Mordrate zwar signifikant, gleichzeitig steigt die Zahl der Toten durch die Polizei ebenfalls deutlich. Was nicht verwundert, schließlich hat der Gouverneur eine Art Freifahrtschein zum Abschuss von mutmaßlichen Kriminellen ausgestellt.
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Polizeioffensive gegen mutmaßliche Kriminelle
„Das Richtige ist, Kriminelle zu töten, die ein Maschinengewehr haben“, sagte er im Wahlkampf der Zeitung „Estado de S. Paulo. Und: „Die Polizei wird das Richtige tun: aufs Köpfchen zielen und… Feuer!“
Gleich im Januar, dem Monat von Witzels Amtseinführung, wurden 160 mutmaßliche Kriminelle getötet – so viele wie noch nie seit Beginn der Erhebungen. Die Anhänger des Politik-Neulings, der gleich bei seinem ersten Anlauf als Kandidat der Sozialen Christlichen Partei (PSC) die Gouverneurswahlen gewann, hoffen, dass Rio sich auf diese Weise endlich aus den Fängen der Kriminalität befreien kann.
Scheinbar zeigen sich die Drogenorganisationen und die gefürchteten Milizen aus früheren Soldaten, Polizisten und Wachmännern, die auch für die Ermordung der linken Politikerin Marielle Franco verantwortlich gemacht werden, tatsächlich beeindruckt: Die Kriminalitätsraten sind etwas rückläufig. Allerdings gab es schon in der Vergangenheit ähnliche Offensiven des Staats – ohne nachhaltigem Erfolg: Meist führten die aggressiven Polizeieinsätze nur zu Phasen trügerischer Ruhe, in der sich Banden neu organisierten und ins Umland oder sogar in andere Bundesstaaten auswichen.
Schließlich beseitigt die „Law & Order“-Politik noch lange nicht die Faktoren, die dazu führen, dass brasilianische Kinder und Jugendliche in der Kriminalität mehr Zukunftschancen sehen als auf dem Arbeitsmarkt. Viele, die nicht Mitglied in einer der drei großen Verbrechersyndikate Rios werden, landen auf den Straßen, wo sie betteln. Aber auch für dieses Problem hat Witzel eine vermeintlich einfache Lösung.
„Straßenkinder ohne Geld und Ausweis werden von der Militärpolizei zum Jugendkommissariat gebracht und dann den Eltern übergeben. Und wenn die Familie nicht auftaucht, kommen die Kinder in ein Heim.“ Das Wichtigste sei, sie in die Schule zu schicken, sagt Witzel. Allerdings: Ohne Perspektive zieht es sie am Ende doch wieder auf die Straße – und irgendwann womöglich in die Drogengangs. Die bieten Jobs, ordentliche Gehälter, Macht.
„Polizisten sind angehalten, Touristen gut zu behandeln“
Für Wilson Witzel geht es gerade in den ersten Regierungsmonaten aber vor allem um sichtbare Ergebnisse, nicht zuletzt an touristischen Hotspots wie dem Zuckerhut, der Christusstatue und den beliebten Stadtstränden. Und die liefert er: „Dieses Jahr hatten wir bislang noch keine Massenüberfälle“, sagt er. „Die Zahl der Diebstähle ist signifikant gesunken.“ Rio de Janeiros Strände seien jetzt sicher. „Sobald sich Gruppen von Jugendlichen bilden, greift die Polizei sofort ein.“
Witzel weiß, dass das den Touristen wichtig ist. Und wie möchte er sonst für deren Sicherheit sorgen? „Alle Polizisten sind angehalten, Touristen gut zu behandeln“, erklärt er TRAVELBOOK. „Wir haben eine Einheit, die sich nur um Urlauber kümmern soll und Englisch spricht.“ Es gebe auch zahlreiche Übersetzer, die Touristen im Zweifel unterstützen können. Zudem habe er den Tourismussekretär höchstpersönlich angewiesen, „dass jedem Urlauber, der irgendein Problem hat, von der Behörde geholfen wird“.
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Witzel distanziert sich von Bolsonaros schwulenfeindlichen Aussagen
Man merkt Witzel an, dass er bemüht ist, das Image seines Bundesstaats und der Stadt am Zuckerhut um jeden Preis zu verbessern. Doch der Ruf Brasiliens als Ganzes leidet, nicht zuletzt auch wegen des Präsidenten. Dessen verbale Entgleisungen in Bezug auf Schwule und Lesben schüren ein Klima der Angst in der LGBT-Community. So sagte Bolsonaro unter anderem, er hätte lieber einen toten als einen homosexuellen Sohn, und auch: „Ja, ich bin homophob und stolz darauf.“
Müssen Schwule und Lesben in Rio angesichts solcher Aussagen fürchten, diskriminiert oder gar angegriffen zu werden, wenn sie offen ihre Liebe zeigen? „Rio ist nicht gleich Brasilien. Rio ist nicht homophob“, distanziert sich Witzel von seinem Präsidenten: „Rio ist der Regenbogen-Bundesstaat. Schwule und Lesben sind alle willkommen. Sie können Händchen haltend durch die Straßen gehen, sich umarmen – kein Problem. Bei uns gibt es keine Homophobie, keine Intoleranz, was den Glauben oder die sexuelle Orientierung angeht.“ Auch er selbst sei nicht homophob. „Mein ältester Sohn ist transsexuell.“
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Umweltschutz und eine „aggressivere Landwirtschaftspolitik“
Es fällt Wilson Witzel nicht immer so leicht, sich derart klar von Bolsonaro abzugrenzen. Beim Thema Abholzung etwa teilt der Gouverneur die Meinung des Präsidenten. „Betrachtet man Brasilien als Ganzes, so hat das Land derzeit mehr als 60 Prozent Regenwald.“ Deshalb gebe es noch viel Raum für eine nachhaltige Landwirtschaft. „Eine aggressivere Landwirtschaftspolitik ist notwendig, weil Brasilien sein Bruttoinlandsprodukt steigern muss.“ In seinem Bundesstaat jedoch will er die Natur bewahren, da gebe es strenge Kontrollen, was die Abholzung angeht. „Die Umweltbehörde setzt dafür Hubschrauber ein. In manchen Regionen treiben wir eine Wiederbepflanzung voran“, so Witzel zu TRAVELBOOK.
Schließlich kommen die Urlauber auch wegen der Natur nach Brasilien. Das ist auch dem Gouverneur bewusst. So betont er im Gespräch, der Bundesstaat Rio habe nicht nur Ipanema und Copacabana zu bieten, sondern auch die Berge, die Costa Verde, Guaratiba, das wunderschöne Kolonialstädtchen Paraty und Angra dos Reis mit den vielen Inseln.
Witzel spricht von mehr Flugverbindungen ins Innere des Bundesstaats, einer angestrebten Verdopplung der Besucher und, paradoxerweise, von Ökotourismus. Doch so recht mögen die Bilder von ins Meer geleiteten Abwässern an Rios Stränden dazu nicht passen.
Ungeklärtes Abwasser an der Copacabana
Was der Gouverneur dagegen tun will? „Wir werden identifizieren, wer für die Abwässer verantwortlich ist und die Verursacher dazu bringen, alles so zu sanieren, damit das nicht mehr passiert.“ Auch die Umweltbehörde sei jahrelang von korrupten Beamten besetzt gewesen. „Jetzt sind da Personen, die in keinerlei Korruption verwickelt sind.“
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Wie nachhaltig ist diese Politik der harten Hand am Ende wirklich?
Korruptionsbekämpfung. Mehr Kontrollen. Polizei. Das sind Wilson Witzels Fokus-Themen. Wer ihm zuhört, merkt: Da sitzt ein Mann, der glaubt, er könne allein mit Härte alles umkrempeln. Doch dafür sind seine Erklärungs- und Lösungsansätze für Rios Probleme zu einfach. Einen Apparat, der so durchdrungen ist von Korruption, saniert man nicht mit ein paar Kontrollen und neuen Beamten. So wie auch eine Unterbringung im Heim Straßenkinder nicht in vorbildliche Bürger verwandeln wird. Und ein über Jahrzehnte gewachsenes Geflecht organisierter Kriminalität entzerrt man nicht mit Scharfschützen und Maschinengewehren.
Vielleicht gelingt es Wilson Witzel, Rio für Urlauber sicherer zu machen und mehr Touristen in das zweifelsohne schöne Bundesland zu locken, die Frage ist jedoch: Wie nachhaltig ist diese Politik der harten Hand am Ende wirklich?