5. Dezember 2016, 17:04 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Einst war Ericeira ein verschlafenes Fischerstädtchen, 2011 adelte ein US-Verband die Strände als erstes Surfreservat Europas. Doch der Aufstieg bedroht die Seele des Ortes. Das Zentrum des Surferlebens ist bereits der Geldgier zum Opfer gefallen.
Am 30. Juli 2012 kamen die Polizisten mit Gewehren und beendeten den Traum vom einfachen Surferleben unter portugiesischer Sonne. „Sie rissen die Türen und Fenster aus den Holzhütten und hängten ein Schloss an die Tür des Surfcamps“, erzählt Tiago Oliveira, der das Camp am Strand von Ribeira d’Ilhas im Jahr 2000 eröffnet hatte. „Nach wenigen Stunden war es in den Fernsehnachrichten.“ Denn Ribeira d’Ilhas war nicht irgendeines der vielen Surfcamps in Portugal. Es war das Zentrum und die Seele von Europas erstem Surfreservat.
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Ericeira wurde zum Weltsurfreservat ernannt
Im Oktober 2011 ernannte der Verband Save the Waves Ericeira zum World Surfing Reserve. Die Idee ist, eine Art Welterbe des Surfens zu schaffen. 120 Orte hatten sich beworben, am Ende entschied sich der US-Verband für das Fischerstädtchen 50 Kilometer nördlich von Lissabon. Denn hier drängen sich sieben Weltklasse-Wellen auf vier Kilometern, von Pedra Branca bis São Lourenço. Die berühmteste ist Ribeira d’Ilhas.
„Politiker mögen keine Hippies“
Bis vor wenigen Jahren surften hier die Profis in einem der wichtigsten Wettkämpfe der World Qualifying Series. Und am Abend traf man sich im Camp. „Viele Eltern kamen, weil sie dort ihre Kinder frei herumlaufen lassen konnten“, erzählt Oliveira. Zwei junge Belgier verkauften aus einem Wagen Pizza, es gab Konzerte und Reggae-Partys. „Es war ein Hippieort“, sagt Oliveira. „Aber Politiker mögen keine Hippies.“
Jetzt stehen sterile Holzkästen vor einem riesigen Parkplatz in der Bucht. Die Rollläden sind geschlossen. Eigentlich sollte der Komplex mit fünf Restaurants, Shops und Duschen im Mai 2013 eröffnet werden. Aber Tiago Oliveira ließ die Party platzen. „Das ist immer noch mein Land“, sagt er. „Die Enteignung ist vor Gericht, das kann fünf Jahre dauern.“
Das neue Reservat konnte das Zentrum der Surfkultur in Ericeira nicht schützen. Aber zumindest die Natur werde es bewahren, hofft Diogo Sarmento, 51, verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase, graue Locken bis in den Nacken. Sarmento war einer der ersten Surfer in Ericeira, er kennt alle Wellen hier.
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Fünf Australier entdeckten die Wellen vor Ericeira
1967 bremste ein VW-Bus mit einem Känguru-Aufkleber auf dem Heckfenster in Ericeira. Fünf Australier stiegen aus. Und ritten die Wellen nahe des Praia dos Pescadores. Die Fischer waren schockiert, sie wähnten die Männer in Lebensgefahr. Bald eiferten die einheimischen Jungs den Australiern nach.
Nick Uricchio kam 1978 kam das erste Mal nach Ericeira. Und blieb. „Portugal war damals noch eine Surfwildnis“, erzählt er. „Ich mochte es sehr, traf nette Leute. Und vor allem lernte ich meine Frau kennen.“ Uricchio richtete sich eine Werkstatt ein und begann, Surfbretter zu bauen. „Geschäftlich gesehen war das damals eine schlechte Entscheidung“, sagt Uricchio. „Ericeira war ein Fischerdorf, es gab keine Jobs, und die Straßen waren schlecht. Mein Material und meine Kunden waren in Lissabon. Aber in puncto Lebensqualität war es eine sehr gute Entscheidung.“
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Kritik am zunehmenden Surf-Tourismus
Er sieht den Aufstieg des Fischerstädtchens zum Surferzentrum Portugals mit Sorge. Seit fünf Jahren kämen immer mehr Touristen nach Ericeira, sagt er, um die berühmten Wellen zu reiten. Vor allem die Beach Breaks seien nun im Sommer überfüllt. „Wir brauchen irgendeine Kontrolle“, fordert Uricchio. Zum Beispiel eine Obergrenze für die Zahl der Surfschüler. „Wenn die Leute hierher fliegen und eine Woche lang kaum eine Welle bekommen, kehren sie frustriert nach Hause zurück.“
Coxos ist die heilige Kuh von Ericeiras Surfern. Und alles andere als ein Anfängerspot. Ein einziger Surfer paddelt an diesem wolkenverhangenen Tag in den grauen Brechern. „Natürlich ist Coxos die verrückteste, beste Welle“, sagt Sarmento, besonders bei Nordwest-Swell. „Aber man sollte sich hier Zeit nehmen, Respekt zeigen, nicht reinspringen und denken, man nimmt die erste Welle. Und wenn schon 50 Surfer im Wasser sind, fährt man lieber zu einem anderen Spot. Wenn Coxos funktioniert, dann auch alle anderen Wellen.“
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Der Surfverband ASP wollte Coxos einst als Station der World Championship Tour etablieren. Ericeiras Surfer lehnten ab. „Nicht mal der lokale Surfclub darf hier Wettkämpfe abhalten“, erklärt der Surflehrer Frithjof Gauss.
Das Nein hat die Übernahme Ericeiras durch die Surfindustrie freilich nicht gestoppt. Der Surfboom in Ericeira geht weiter. Und die Ernennung zum Surfreservat befeuert ihn. Nick Uricchio sieht das Schutzgebiet deshalb zwiespältig: „Es bringt mehr Aufmerksamkeit und damit mehr Touristen, für die man wieder bauen muss.“
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„Wir wollen nicht kämpfen“
Balearische Verhältnisse sind aber noch fern. Auf der Praça Republica sitzen die Alten unter Platanen und gusseisernen Straßenlaternen, füttern die Tauben und mustern gleichgültig die vorbeischlurfenden Gäste in Kapuzenpulli, Shorts und Flipflops. „Wir sind hier nette, entspannte Leute“, sagt Diogo Sarmento. „Wir wollen nicht kämpfen.“ Es klingt wie eine Beschwörung.