7. Dezember 2023, 10:44 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Vielleicht nirgendwo in Deutschland kann man die Macht der Elemente noch so ursprünglich und mitunter auch gewaltig spüren wie an der Nordseeküste. Wo Wind, Wetter und Wellen den Takt des Alltags bestimmen, wird der Mensch auf sehr angenehme Weise auf eine Statistenrolle reduziert. Und lernt plötzlich vielleicht sogar, drei Tage Dauer-Regen in all seinen Formen zu genießen. TRAVELBOOK-Autor Robin Hartmann hat das kürzlich in dem kleinen Ort Hooksiel erlebt. Ein Teil seines Herzens ist dageblieben.
Es ist voll im Shoppingcenter von Wilhelmshaven, Freitag der 13., und scheinbar jeder in der Stadt hat sich vor dem Regen ins sichere Warme geflüchtet. Der örtliche Shanty-Chor, die „Blauen Jungs“, sorgt, begleitet von einem Akkordeon, für gute Laune. Besonders bei mir, dem Gast aus dem fernen Berlin, der gerade von Hannover aus per Regionalbahn eingetroffen ist und jetzt auf seinen Anschlussbus zum Tagesziel wartet, in den kleinen Ort Hooksiel direkt an der Nordseeküste. „Wir lagen vor Madagaskar“, das unsterbliche „Junge, komm bald wieder“ von Freddy Quinn – und schon ist der mitunter hektische Alltag irgendwo, aber nicht hier.
Drei Tage Nordsee, Hooksiel: Das hatte eine gute Freundin kürzlich vorgeschlagen, deren Eltern dort vor über 40 Jahren ein Ferienhaus gekauft hatten. Schauplatz herrlicher wie auch verregneter Sommer ihrer Kindheit und Jugend, nun sollte es verkauft werden. Also noch ein letztes Mal Nostalgie, lange Strandspaziergänge, die wohl besten Fischbrötchen der Welt. Und weil meine Freundin diese letzte Reise nicht alleine antreten wollte, vielleicht auch nicht alleine antreten konnte, waren wir wie in den Büchern von Enid Blyton insgesamt „Fünf Freunde“.
Wie in einem Turner-Gemälde
Doch den Weg nach Hooksiel musste ich zunächst alleine und per Bahn auf mich nehmen, denn in das Reise-Auto passten mit Gepäck beim besten Willen nur vier Personen. So nutzte ich die Chance, schon sehr viel früher als die anderen loszufahren, um auch noch Wilhelmshaven ein wenig zu erkunden. Vom Bahnhof ist man in vielleicht einer Viertelstunde zum Meer gelaufen. Bei meiner Ankunft zeigte sich der Himmel in einem so dramatischen Spiel aus Sonne und Wolken, dass ich auch direkt in einem Gemälde von Turner hätte stehen können. Ein sehr kräftiger Wind blies, die Wellen schwappten wütend gegen die Uferbefestigung.
Die Promenade, sehr euphemistisch als „Südstrand“ bezeichnet, ist in Wahrheit eine vollbetonierte Flaniermeile für Spaziergänger. An einer Stelle wagten sich ein paar Todesmutige in das bestimmt sehr kalte Wasser. Ansonsten außer mir nur zahlreiche Steinwälzer, eine sehr liebenswert hüpfende und tippelnde Vogelart. Der aufkommende Regen trieb mich dann schnell in das Aquarium mit Meerblick. Und obwohl es sehr schön gestaltet ist und sogar einige seltene bzw. weltweit einzigartige Exponate beinhaltet, macht mich der Anblick von gefangenen Tieren persönlich immer befangen. Also nichts wie raus, ab zum Bus nach Hooksiel.
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Früher Schmuggler, heute Touristen
Laut der offiziellen Seite des Wangerlandes, zu dem der Ort gehört, wurde Hooksiel erstmals 1479 als „uppe dem Hoeke“ urkundlich erwähnt. Während der Napoleonischen Kontinentalsperre von 1806 bis 1814 erlebte das kleine Fischernest eine ungeahnte Blütezeit als Umschlagplatz für Schmuggelware. 1911 dann erstmals Bestrebungen, Touristen an die schönen Strände zu locken, heute im Sommer ein wahrer Hotspot für Nordseefans. Laut „Nordwest Zeitung“ knapp 2700 Einwohner, im vergangenen Jahr gut 56.000 Tagesgäste. Von denen sehe ich so gut wie niemanden, als ich mit dem Bus der Linie 121 an einer Haltestelle ankomme, die sich doch tatsächlich Zentraler Omnibusbahnhof nennt, ZOB Hooksiel.
In Hooksiel kann man auf wunderbare Weise erleben, dass ein Ort nicht laut und bunt sein und das Reklame-Appeal eines Feuerwerks haben muss, um zu verzaubern. Hooksiel schafft das einfach mit seinen romantischen kleinen Backsteinhäusern, alle in karminrot, und seiner ebenfalls Backstein-gepflasterten „Hauptstraße“. Ein paar Restaurants, noch viel mehr Souvenir-Shops, das Muschelmuseum. Der Alte Hafen mit ein paar Kähnen. Vor einem Laden ein Schild: „Es heißt ‚Moin‘! ‚Moin Moin‘ ist schon Gesabbel“. Wo Menschen keine großen Worte um sich selbst und ihren Ort machen, der auch so einfach schön ist.
Kathedrale der Köstlichkeiten
Da man dem Regen ohnehin nicht entkommen kann, machen wir das Beste daraus. Das ist in unserem Fall ein langer Spaziergang zum Außenhafen von Hooksiel. Vorbei an einem als Hooksmeer bezeichneten Brackwasserarm, durch einen vor einigen Jahrzehnten erst gepflanzten Wald, das sogenannte Hooksieler Tief. Viele junge Pappeln und Erlen, einmal eine Wasserski-Strecke, unsere „einheimische“ Freundin kommentiert: „In der einen Kurve muss man aufpassen. Da fliegen Anfänger immer raus.“ Wir erleben live, wie einer der Anfänger aus der Kurve fliegt, dann sind wir auch schon bei einem der legendärsten Orte des gesamten Wangerlandes.
Wie eine moderne Kathedrale erstrahlt der Imbiss „To’n Fischhus“ aus einer weiteren Regenfront, die uns soeben überfällt. Und wenn sonst auch nirgendwo in Hooksiel Menschen zu sehen waren, dann, weil sie alle hier zu sein scheinen. Und das wegen des Backfisches, der laut einem lokalen Reiseführer mitunter auch ganze Busladungen von Touristen zu einem Halt an dem ansonsten sehr trostlosen Ort veranlasst. 7,50 Euro, eine Portion wie eine gehörige Tracht Prügel, so etwas Frisches hat noch nie eine Zunge (in Berlin) gekostet. Glauben Sie mir, auch wenn die lokalen Pommes ebenso gelobt werden wie der Fisch, die brauchen Sie einfach nicht mehr dazu, um mehr als satt zu werden.
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Vorsicht im Watt
Auf dem Rückweg und bei Ebbe empfiehlt sich dann eine Wanderung durch das malerische Watt entlang des Seedeichs von Hooksiel. Der vom Meer immer wieder aufgespülte Boden ist so rissig und uneben, als liefe man direkt über einer tektonischen Verwerfungszone. Am Horizont eine Schar Möwen, im flachen Wasser wie von einem Pointilisten mit einem Pinsel dort hingetüpfelt. Mitunter muss man hier aufpassen, wo man hintritt, denn in den durch das Watt mäandernden Prielen kann man durchaus einsinken. Ohnehin sollte man diesen Spaziergang nur mit guten Gummi- bzw. zumindest Wanderstiefeln unternehmen.
Abends dann schon wieder eine Einkehr, das viele Spazierengehen und Nasswerden macht Appetit. Natürlich muss es wieder Fisch sein, das kleine „Zum Anker“ empfängt mit einer gemütlichen Atmosphäre. Auf der Karte zahlreiche recht hochpreisige Fischgerichte, aber nur noch die „Kutterscholle“ auch wirklich von hier. „Die Auflagen von der Gewerkschaft machen den einheimischen Fang kaputt“, so die Bedienung kopfschüttelnd. Von den ehemals zahlreichen Nordsee-Krabbenfischern in Hooksiel ist jetzt auch nur noch „der Peters“ übrig, zu dem meine Freundin schon geht, seit sie ein Kind ist.
Rückbesinnung auf sich selbst
Am nächsten Tag aber empfängt uns an dem kleinen Fischerhaus nur ein Schild, „Heute leider keine Krabben“. „Jetzt fühlt es sich wirklich so ein bisschen nach Abschied an“, so meine Freundin melancholisch. Und aus Ermangelung an anderen „Sehenswürdigkeiten“ machen wir es uns daraufhin auch gerne bei Tee mit Kandiszucker und diversen Gesellschaftsspielen so richtig gemütlich, während draußen der Regen mal wieder alles ertränkt. Doch dieser Umstand gibt uns die wunderbare Möglichkeit, endlich mal wieder anzuhalten und durchzuatmen auf unseren Lebens-Highways, die mit Aktivitäten, Events und Meetings heutzutage ja geradezu vollgestopft sind.
Nichts machen zu können wird zu „nichts machen müssen“, und ein sehr schönes Gefühl der Entspannung stellt sich ein. Na gut, jetzt könnte man natürlich auch noch das Meerwasser-Hallenbad von Hooksiel besuchen. Oder mit der Nordsee-Gästekarte gratis für ein paar Stunden ein Elektroauto mieten, um zum Beispiel ins nahe Jever zu fahren. Wir genießen stattdessen umso mehr die Rückbesinnung auf uns selbst, und das ist sicherlich auch das schönste Geschenk, dass mir die Zeit an der Nordsee gemacht hat.
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Den anderen geht es offenbar ähnlich, denn meine Freundin sagt immer wieder: „Noch ist das Haus ja nicht verkauft.“ Wenn das so bliebe, könne man ja vielleicht noch einmal um Ostern wiederkommen. Ich fange schon beim Abschied von Hooksiel an, von der möglichen Rückkehr zu träumen. Meine Freundin bleibt noch ein paar Tage alleine dort, um sich gegebenenfalls wirklich zu verabschieden von diesem Teil ihrer Kindheit und Jugend. Ein paar Tage später schickt sie ein Foto, es gab dann doch noch frische Nordsee-Krabben bei Peters. Was mir bleibt, ist die Erinnerung an einen kleinen Ort, der mein Herz berührt hat. Und der Wunsch, die Nordsee bald noch besser kennen und verstehen zu lernen.