27. Mai 2019, 12:37 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Etwa 20.000 Ratten wuseln im Karni-Mata-Tempel in Rajasthan in Indien umher. Sie werden wie Heilige verehrt, bedient und dürfen die Speisen der Menschen zuerst essen. Touristen müssen Regeln beachten – und erfahren skurrile Legenden.
Sie krabbeln über die Füße der Touristen, werden mit den besten Speisen verwöhnt und machen den Tempelboden, den Besucher nur ohne Schuhe betreten dürfen, ganz klebrig: die rund 20.000 Ratten (lat. rattus rattus), die im Karni-Mata-Tempel in Indien leben. Da sie wie Heilige angebetet werden, sind sie extrem zahm gegenüber Menschen.
Touristen können es zum Teil kaum fassen, welche Szenen sich abspielen im „Tempel der heiligen Ratten“ in der kleinen Stadt Deshnok im indischen Rajasthan, etwa 30 Kilometer südlich von Bikaner in der Nähe der pakistanischen Grenze.
Glück und Segen durch Ratten-Kontakt
Speisen zu essen, die zuvor von den Ratten angeknabbert wurden, bringt Segen – davon sind die Gläubigen überzeugt. Und so sieht der staunende Tourist, wie Menschen den Nagern, die über ihren ganzen Körper krabbeln, Essen zuerst anbieten und es erst dann selbst in den Mund schieben. Milch zu trinken, von der die Ratten vorher geschlabbert haben, gilt ebenfalls als heilbringend.
Jede Berührung mit den heiligen Ratten soll Glück bringen – etwa, wenn die Nagetiere dem Tempelbesucher über die Füße laufen. Besonderen Segen bringt allein schon das Erblicken einer weißen Ratte: Zwischen den gewöhnlichen Hausratten sind auch einige Albino-Exemplare. Einige Besucher verharren stundenlang vor Mauerritzen, um eine der seltenen weißen Ratten mit Delikatessen anzulocken.
Nicht ekeln: Ratten-Knigge für Menschen
Wer den Tempel betritt, muss wichtige Regeln beachten, auch wenn sie europäischen Besuchern seltsam vorkommen. Wie in Hindu-Tempeln üblich, darf auch der Rattentempel nicht mit Schuhen betreten werden – für manchen Besucher eine Mutprobe angesichts der Ratten-Exkremente, die besonders kurz vor den Reinigungszeiten den Boden bedecken. Touristen, die vor einem Barfuß-Gang zurückschrecken, dürfen allerdings in Socken hineingehen.
Die heiligen Tempel-Ratten sollten mit Respekt behandelt werden. Ihnen Speisen und Getränke mitzubringen bringt Glück, heißt es. Auf keinen Fall darf ihnen Leid angetan werden. Besucher werden angewiesen, sich sehr achtsam zwischen den Nagern zu bewegen, die keinerlei Scheu oder Vorsicht zeigen. Sollte ein Besucher dennoch aus Versehen auf eines der Tiere treten oder bei einem anderen Unfall töten, muss er es außerhalb des Tempels bestatten und als Buße eine Ratte aus Silber oder Gold stiften.
Der heiligste Innenbereich mit der Statue von Karni Mata darf nur von gläubigen Hindus betreten werden. Auch hier schlemmen die Ratten diverse Speisen, die ihnen in silbernen oder bronzenen Schalen serviert werden.
Geheimnisvolle Nager-Legenden
Aber warum sind diese Tempel-Ratten so heilig? Es gibt verschiedene Legenden, die sich um die Nager ranken. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Seelen verstorbener Menschen in sich tragen: Es sind Wiedergeborene, die unter dem Schutz der Heiligen Karni Mata stehen, einer Reinkarnation der Göttin Durga. Ihr ist der Tempel geweiht.
Die weise Frau Karni Mata lebte ihren Anhängern zufolge im 14. und 15. Jahrhundert. Bis sie im Alter von 151 Jahren spurlos verschwand, hat sie laut der Mythologie etliche Wundertaten vollbracht. Schon zu ihren Lebzeiten soll sie als Heilige verehrt worden sein, als Schutzgöttin der Rajputen, speziell der Fürstenfamilie von Bikaner.
Wiedergeborene Fürsten
Nach verbreiteten Legenden sind die Ratten Wiedergeborene eines Fürsten- und Bardengeschlechts, auch bekannt als Volk der Karni Mata. Als die weise Frau in der Gegend wirkte, wurde ihr ein Junge gebracht, der durch einen Unfall ums Leben gekommen war – einer Variation der Legende zufolge ihr Stiefsohn Laxman, der beim Versuch, aus einem Brunnen zu trinken, hineinstürzte und ertrank.
In Trance bat die Heilige den Totengott Yama, das Kind wieder zu den Lebenden zu schicken. Doch Yama weigerte sich mit der Behauptung, das läge nicht mehr in seiner Macht, da die Seele des Jungen bereits anderweitig wiedergeboren sei.
Und so schwor Karni Mata, dass kein männliches Mitglied ihres Volkes je wieder das Totenreich des Gottes Yama betreten würde. Stattdessen sollten die Seelen der Verstorbenen als Ratte wiedergeboren werden, um dann im folgenden Leben als viel geachtete Barden wiederaufzuerstehen. Einer anderen Version zufolge war die Wiedergeburt als Ratte von vornherein ein Vorschlag des Totengottes, um eine Rückkehr des Jungen zu ermöglichen.
Die besten Schnäppchen & Storys: Hier für denTRAVELBOOK-Newsletter anmelden!
Reinkarnation von Deserteuren?
Einer anderen Legende zufolge sind die heiligen Ratten Seelenbehälter von Soldaten. Demnach soll einst eine 20.000 Mann starke Armee vor einer Schlacht nach Deshnok geflohen sein. Als Karni Mata erfuhr, dass sie desertiert waren, eine Sünde, die eigentlich mit dem Tode bestraft wird, ließ sie Gnade walten. Anstatt sie zu töten, verwandelte sie die Männer in Ratten und gab ihnen den Tempel als neues Zuhause. Aus Dankbarkeit versprachen die Soldaten-Ratten, ihr auf ewig zu dienen.
Ratten sind in der hinduistischen Kultur ohnehin nicht ausschließlich mit demselben Ekel-Ruf behaftet wie etwa hierzulande. So wird die Ratte auch mit Ganesha assoziiert, dem Hindu-Gott mit dem Elefantenkopf. Er steht für Klugheit, Glück und Reichtum. Die Ratte ist sein „Fahrzeug“, sein Reittier, auf dem er oft abgebildet wird. Wie der Gott wird auch die Ratte oft als klug und glücksbringend bewundert.
Auch interessant: Kalavantin Durg in Indien – die gefährlichste Festung der Welt
Indien Varanasi – die Stadt, in die Menschen zum Sterben kommen
BBC-Doku Die Turmspringer-Affen von Jaipur
Top-Reiseziel Die besten Reisetipps für Mumbai
Prächtiger Tempel mit Nager-Statuen
Eine Sonderstellung als Heilige haben allerdings nur die Ratten innerhalb des Karni-Mata-Tempels. Nagetiere außerhalb der Tempelmauern werden als Schädlinge betrachtet. Sie werden zwar nicht getötet, aber eingefangen und weit entfernt wieder ausgesetzt.
Der prächtige Tempel im Mogul-Stil wurde in seiner heutigen Form Ende des 20. Jahrhunderts von einem Maharaja gestaltet. Seine Geschichte reicht allerdings rund 600 Jahre zurück. Um die heiligen Ratten vor Raubvögeln zu schützen, ist der nach oben offene Tempelbereich durch Netze gesichert.
Auch die Verzierungen spiegeln die Anbetung der intelligenten Nager wider. Den Eingang schmücken Hunderte Ratten-Statuen aus Stein. Auch die reichen Verzierungen aus Silber und Gold zeigen Nagetiere als Motive. Ein Besuch des merkwürdigen Rattentempels gehört mit Sicherheit zu jenen Reise-Erlebnissen, die unvergesslich bleiben.