19. Mai 2020, 17:29 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
„Insel der Wiedergeburt“ heißt ein Ort, der früher mitten im Aralsee lag und dessen Name bizarrer nicht sein könnte. Denn Ostrow Wosroschdenija hat eine tödliche Vergangenheit und ist heute eine tickende Zeitbombe. Forscher fürchten, dass die todbringende Gefahr jederzeit wieder erwachen könnte…
Es ist das Jahr 1971, als das Forschungsschiff „Lev Berg“ auf dem Aralsee in einen mysteriösen braunen Nebel gerät. Einige Tage später werden bei einer jungen Wissenschaftlerin, die mit an Bord war, die Pocken diagnostiziert – obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits gegen die Krankheit geimpft war. Kurz darauf sterben drei Leute aus ihrem Heimatort, die sich vermutlich bei ihr angesteckt haben. Sie selbst überlebt. Damals ahnt noch niemand, dass die Krankheit vermutlich von einer geheimnisvollen Insel im Aralsee stammte – und dass Menschen den Erreger absichtlich erschaffen hatten.
Der Vorfall, über den unter anderen die BBC berichtete, ist nur eine von zahlreichen Tragödien, für die Ostrow Wosroschdenija verantwortlich sein soll. Ihr Name bedeutet übersetzt „Insel der Wiedergeburt“ – blanker Hohn angesichts dessen, was bis zum Ende der Sowjetunion hier passierte und der Gefahr, die heute von ihr ausgeht. Einst befand sich auf Wosroschdenija ein geheimes Labor namens Aralsk-7 für die Entwicklung von Biowaffen: Potenziell ohnehin schon tödliche Erreger wie die Pocken, Anthrax oder sogar die Pest wurden hier an Tieren getestet und „weiterentwickelt“, um sie noch gefährlicher zu machen. Dort dem tödlichen Upgrade unterzogene Pockenviren sollen auch die junge Wissenschaftlerin krank gemacht haben. 1988 kam es dann zu einem weiteren besorgniserregenden Vorfall, als in der Nähe der Insel eine Population von 50.000 Saiga-Antilopen innerhalb von einer Stunde verendete.
Tödliche Forschung
Bereits Ende der 1940er-Jahre richteten die Sowjets auf Wosroschdenija das besagte Forschungslabor Aralsk-7 ein, eines von laut BBC insgesamt 52 Laboren in dem ehemaligen Riesenstaat, in denen an tödlichen Krankheiten „geforscht“ wurde. Die Lage der Station schien ideal, damals lag die Insel noch mitten im Aralsee, dem zu diesem Zeitpunkt größten See der Welt. Mittlerweile ist der See so ausgetrocknet, dass er rund 80 Prozent seines Wassers verloren hat. Die „Insel der Wiedergeburt“ ist daher heute gar keine Insel mehr, sondern über eine Landzunge mit dem Festland verbunden, ihre Fläche seit 1960 um das Zehnfache gewachsen. Und genau das ist es, was Wissenschaftlern heute große Sorgen macht, denn sie fürchten, dass Menschen in Kontakt kommen könnten mit den dort noch befindlichen Viren und Bakterien. Die „Insel der Wiedergeburt“ ist sogar so berüchtigt, dass sie als Schauplatz eines Szenarios in dem Egoshooter-Spiel „Call of Duty: Black Ops“ verwendet wurde.
Denn nicht nur, dass hier tödliche Erreger „designt“ wurden, weil die Sowjets sich vor einem Krieg mit Biowaffen fürchteten – bis zu 200 Tonnen Anthrax-Erreger sollen hier 1988 einfach vergraben worden sein, um die Spuren des Projekts zu verwischen. Nun können aber solche Milzbrandbakterien im Boden unter „guten“ Bedingungen jahrhundertlang überleben, überstehen extreme Temperaturen genauso wie teilweise sogar die Bekämpfung durch starke Chemikalien. Die „New York Times“ sprach bereits 2003 mit Gennadi Lepyoshkin, der als Forscher 18 Jahre lang auf Wosroschdenija gearbeitet hat. Was er der Zeitung berichtete, ist absolut schockierend.
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Vernichtung für einen Dollar
„Als ich 1970 das erste Mal hierherkam, war es ein schöner Ort“, sagt Lepyoshkin zur „New York Times“. „Das Wasser war klar, und wir schwammen und sonnten uns nach der Arbeit. Wir arbeiteten an Waffen wie Anthrax, der Pest und anderen Bakterien, testeten Impfstoffe und überprüften, wie lange sich Mikroorganismen in der Erde halten konnten.“ Trotz der permanenten Gefahr habe es aber nie einen Unfall gegeben. „Wir haben einmal errechnet, wie viel es kosten würde, in einem Radius von einem Quadratkilometer mindestens die Hälfte aller Bewohner zu töten – bei Biowaffen sind wir bei einem Preis von einem Dollar gelandet.“
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Dennoch seien sie aber stolz auf ihre Arbeit gewesen und hätten neben extrem tödlichen Erregern eben auch sehr wirksame Impfstoffe entwickelt: „Unser Anthrax-Wirkstoff war der beste auf der Welt und wurde mehr als 40 Jahre lang verwendet.“ Auch über die schrecklichen Tests an Tieren spricht er: „Wir ‚benutzten‘ 200 bis 300 Affen jedes Jahr. Nachdem sie den Bakterien ausgesetzt wurden, testeten wir ihr Blut und überwachten den Krankheitsverlauf. Sie starben meist innerhalb weniger Wochen.“ Auch Pferde und Esel habe man als Versuchstiere verwendet.
Heute rottet Aralsk-7 vor sich hin
1992, nach dem Ende der Sowjetunion, wurde die „Insel der Wiedergeburt“ und das darauf befindliche Labor verlassen, ohne weitere Maßnahmen zur Vernichtung der eventuell verbliebenen Erreger zu veranlassen. Diese Aufgabe versuchte laut „Guardian“ nach dem 11. September 2001 ein US-Forscherteam zu erfüllen, indem sie mehrere Monate auf Ostrow Wosroschdenija „aufräumten“ – laut einem Experten aber bei Weitem nicht genug, um sämtliche möglicherweise verbliebene Erreger zu vernichten. „Man muss jede einzelne Spore abtöten, und sie können jahrhundertelang überleben“, heißt es im „Guardian“.
Seitdem Aralsk-7 verlassen wurde, verfällt der Ort immer mehr, und es gibt nur wenige, die sich überhaupt hierher trauen würden – die meisten sind laut zahlreicher Medienberichte Plünderer, die zum Beispiel Kupferdraht aus den Wänden reißen. Wenig überraschend wird die Insel in den wenigen Augenzeugenberichten als geisterhafter Ort beschrieben, wo man immer noch die Gefahr spüren könne. Der britische Journalist und Geograf Nick Middleton war 2005 dort, um für eine Doku zu drehen. Er und seine Begleiter hätten bei ihrem Besuch neben Schutzanzügen auch Gasmasken mit Luftfilter getragen – acht von zehn Personen, die den Anthrax-Erreger inhalieren, sterben laut „BBC“.
„Es ist sicher noch Anthrax dort“
Milzbrand-Experte Les Bailie von der Universität Cardiff warnt in dem „BBC“-Artikel vor der immer noch realen Gefahr: „Es ist sicher noch Anthrax dort.“ Zum Beispiel in den Überresten von einstmals infizierten Tieren: „Wenn man so ein Tier begraben will, muss man einige Meter tief buddeln. Wenn es dann beispielsweise eine Überschwemmung gäbe, könnten die Sporen wieder hochkommen, und auch Würmer können den Boden und damit die Bakterien bewegen.“ Dass das keinesfalls übertrieben ist, zeigt ein Fall aus Nordrussland im Jahr 2016, über den unter anderem der „Guardian“ berichtete: 72 Menschen eines Nomadenstammes infizierten sich dabei mit Anthrax – vermutlich kam der Erreger von einem Rentierkadaver, den warme Temperaturen dem Permafrostboden entrissen hatten. Das Tier war bereits seit mindestens 75 Jahren tot.
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Die europäische Todesinsel
So weit das Problem auch von uns entfernt scheint – die „Insel der Wiedergeburt“ liegt heute im Grenzgebiet zwischen Kasachstan und Usbekistan –, auch in Europa gab es eine Todesinsel, auf der das britische Militär von 1942 bis 1943 Biowaffen testete: Gruinard, das zu Schottland gehört, war bis 1990 striktes Sperrgebiet, weil dort einst Milzbranderreger an Schafen ausprobiert wurden. 1979 befanden sich laut einer Untersuchung durchschnittlich noch zwischen 3000 und 45.000 Sporen pro Gramm Boden auf der Insel – bis man sie mit 280 Tonnen Formaldehyd, gelöst in 2000 Tonnen Meerwasser, förmlich überzog, um auch noch das letzte Bakterium abzutöten.