19. Mai 2023, 10:52 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Räume ohne Menschen: Kanadas geheimnisvolle Geisterstadt Kitsault ist seit 1982 verlassen – doch die Räume sind noch immer eingerichtet, als würden Menschen darin leben. TRAVELBOOK zeigt Bilder eines Fotografen, der das mysteriöse Dorf betreten hat.
In der öffentlichen Bücherei stehen die Bücher griffbereit in den Regalen. Die Einkaufswagen in dem kleinen Supermarkt reihen sich ordentlich am Eingang. Der Rasen vor den Wohnhäusern ist frisch gemäht. Auch innen sieht alles aus, als ob die Bewohner jederzeit zur Tür hineinkommen: In den Schlafzimmern sind die Betten gemacht und auf dem Wohnzimmertisch steht Kinderspielzeug, aufgeräumt in einer Kiste.
Aber irgendetwas stimmt nicht, hier in diesem kleinen kanadischen Ort Kitsault, 1.300 Kilometer nördlich von Vancouver, gerade noch in Kanada, direkt an der Grenze zu Alaska. Kein Mensch ist auf den gepflegten Straßen unterwegs. Kein Kinderlachen dringt aus dem Gebäude der Grundschule, auch die Wohnungen sind leer. Die Tagesdecken auf den Betten sind orangefarben gemustert, wie es in den Siebzigerjahren Mode war. Der Fernseher im Wohnzimmer sieht aus wie Baujahr 1980, ebenso die technischen Geräte im Supermarkt.
Es ist, als sei man mit einer Zeitmaschine in die frühen Achtzigerjahre geraten. Die gesamte Infrastruktur im Dorf ist noch vorhanden, ebenso die Einrichtungen in den Gebäuden. Nur auf den zweiten Blick wird klar, dass hier schon seit Jahrzehnten keine Menschen mehr leben: der wasserlose Whirlpool im Freizeitzentrum, die leeren Regale im Supermarkt und in den Küchen der Wohnhäuser. Das Kultur- und Freizeitzentrum, 1982 eröffnet „für die Angestellten von Amax, ihre Familien und Freunde“, wie auf einer Tafel steht, ist verlassen – und das schon seit mehr als 30 Jahren.
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Wegen des Metalls Molybdän wurde das Dorf errichtet
Was ist das Geheimnis hinter diesem mysteriösen Dorf und seinem Dornröschenschlaf? Molybdän lautet das Schlüsselwort. So heißt das Metall, das hier in der Umgebung vorkommt. Es ist ein Alleskönner, das zum Beispiel zur Härtung von Stahl sowie zur Herstellung verschiedener Metallegierungen verwendet wird, aber auch als Katalysator in der Ölverarbeitung, als Schmiermittel, als Leiter in elektronischen Bauteilen, für bestimmte Solarzellen und Halogenglühlampen oder zur Imprägnierung von Stoffen, um diese schwer entflammbar zu machen. Sogar in der Röntgendiagnostik kommt Molybdän zum Einsatz.
Ein Grundproblem beim Abbau von Molybdän war es immer, die Minenarbeiter zu halten. Die Camps in der abgelegenen Gegend an der Grenze zu Alaska waren kein attraktiver Ort, um länger zu bleiben, vielleicht sogar eine Familie zu gründen. Als die Firma Amax Canada die Mine im Jahr 1979 wieder betreiben wollte, beschloss sie daher, eine Mini-Stadt für ihre Arbeiter zu bauen: Kitsault – ein Ort mit den Annehmlichkeiten einer Großstadt, aber ausgelegt für eine kleine Bevölkerung von weniger als 2.000 Einwohnern.
So entstand die Mitarbeiterstadt Kitsault mit Apartments für Singles, Häuschen für Familien, Krankenhaus, Supermarkt, Sportfachgeschäft, Kultur- und Freizeitzentrum, Kino, Kneipe, Curlingbahn, Ballspielplätzen, Schwimmbad und mehr.
Sinkende Molybdän-Preise machten Dorf zunichte
Doch kaum war die Stadt fertig gebaut, sank der Preis für Molybdän. 1982, nur 18 Monate nach der Stadtgründung, schloss die Mine. Kitsault wurde zur Geisterstadt – aber zu einer ganz besonderen. Während ähnliche Orte dem Verfall überlassen sind, bis die Ruinen irgendwann einem Brand zum Opfer fallen, ist Kitsault in einem guten Zustand. Die Firma Amax beschäftigte weiterhin einen Wärter für das verlassene Gelände.
2005 kaufte der jetzige Besitzer Krishnan Suthanthiran die Stadt. Der US-amerikanische Unternehmer hatte verschiedene Pläne für Kitsault, ließ Gebäude renovieren, erneuerte das Abwassersystem sowie die Wasserleitungen und beschäftigte weiterhin den Wärter. Der mäht den Rasen, hält die Gebäude instand und hat den Schlüssel zum großen Tor, das den Zugang zur Stadt versperrt. „Zugang nur mit Genehmigung“, steht da – und daneben eine Telefonnummer.
Der Fotograf Chad Graham ist einer der wenigen Menschen, die Kitsault in den letzten Jahrzehnten betreten haben. Mit Erlaubnis des Besitzers durfte er 2010 gegen eine Gebühr von 20 Kanadischen Dollar und in Begleitung des Wärters die Stadt fotografisch erkunden. „Es war sehr aufregend“, sagt er TRAVELBOOK, „außer uns war keine Menschenseele da.“
Viele hätten ihn gefragt, ob er sich nicht gegruselt hätte in der verlassenden Stadt. „Dafür war ich viel zu gespannt und fasziniert. Ich habe mich ständig gefragt, was ich als Nächstes zu sehen bekomme“, so der Kanadier. Erstaunt war er auch darüber, dass kaum Staub zu sehen war. Vielleicht werde regelmäßig geputzt. Oder der Küstenwind fegt alles sauber, mutmaßt er. „Ich würde die Stadt gerne noch weiter erkunden“, sagt er TRAVELBOOK. „Dann würde ich mir aber einen zusätzlichen Tag Zeit nehmen, um noch mehr zu sehen.“
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Die Zukunft von Kitsault ist ungewiss
Was aus der Stadt wird, ist derzeit noch ungewiss. Die Molybdän-Mine, für deren Arbeiter Kitsault einst entstand, soll jetzt wieder in Betrieb genommen werden, berichtet das kanadische Nachrichtenportal „Global News“. Allerdings ohne die Stadt wieder für die Mitarbeiter zu öffnen. Wie das Portal schreibt, gebe es Konflikte zwischen dem jetzigen Besitzer der Mine, der sie 2008 gekauft hatte, und dem Besitzer der Stadt.
Stein des Anstoßes: Der Minenbesitzer habe nie Interesse an der Stadt gehabt, aber eine Durchfahrtstraße nutzen wollen. Laut dem Bericht war es zu einem Rechtsstreit gekommen, den Kitsaults Besitzer Krishnan Suthanthiran gewann. Dieser befürchte nun, dass Schadstoffe aus dem Minenbetrieb der Stadt schaden könnten.
Zu den aktuellen Plänen des neuen Besitzers gehöre es, Kitsault als Basis für die Herstellung und den Export von Flüssigerdgas zu nutzen. Auf der Website der Stadt und hält er Interessierte über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden. Der letzte Eintrag ist mehr als zwei Jahre alt.