16. Februar 2018, 6:10 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Kein lästiges Kistenpacken: Wer auf der chilenischen Insel Chiloé umziehen möchte, tut das einfach mitsamt seinem gesamten Haus. Dabei helfen alle Nachbarn, und hinterher gibt es ein großes Fest. Doch die Tradition ist durch den wachsenden Tourismus in der Region bedroht.
Umzug – schon allein bei dem Gedanken an das Wort dürfte wohl die meisten das nackte Grauen ergreifen: Haufenweise Kisten einräumen, Möbelpacker bestellen, ein bisher angestammtes, vertrautes Zuhause verlassen. Das alles kennen die Bewohner der kleinen chilenischen Insel Chiloé nicht – denn sie ziehen im Fall der Fälle einfach mitsamt ihrem Haus um!
Das ist nicht nur sprichwörtlich gemeint: Wer auf Chiloé den Wohnort wechseln will, nimmt sein Haus kurzerhand mit – auf Chiloé stehen die meisten Behausungen auf hölzernen Fundamenten, eine jahrhundertelange Tradition, die dem rauen Klima auf der Insel geschuldet ist, wie die Seite „Atlas Obscura“ berichtet. Kommt etwa eine Überschwemmung oder ein Sturm, auf Chiloé durchaus übliche Wetterphänomene, so kann man ein Haus einfach an einen sichereren Ort bewegen. Das Besondere: Alle Nachbarn helfen dabei, und das, ohne Bezahlung dafür zu erwarten.
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Ein Treffen mit Freunden
Auch das ist Teil der Tradition, die bis zu den Inkas zurückverfolgbar ist und in der Sprache der Mapuche-Ureinwohner „Minga“ heißt – übersetzt bedeutet das soviel wie „Ein Treffen mit Freunden, um Arbeit für die Gemeinschaft zu tun.“ Jeder der hilft, kann sich auch auf die Hilfe seiner Nachbarn verlassen, sollten er und sein Haus auch einmal umziehen müssen. Und diese Umzüge haben es wahrlich in sich und folgen ritualartig festen Abläufen: Als erstes bittet eine umzugswillige Familie die Gemeinde offiziell auf einem Treffen um Hilfe, dann wird das Haus für die Versetzung präpariert – Möbel, Fenster und Türen werden entweder gesichert oder separat transportiert, das Gebäude mit Stützpfeilern verstärkt, um Materialschäden beim Transport zu vermeiden.
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Die Versetzung an sich verläuft auch heute noch mit wahrhaft archaischen Methoden: Das Haus wird, von Ochsen gezogen, über Baumstämme gerollt und so Stück für Stück bewegt, während Schaulustige die Helfer anfeuern. Wenn sie jetzt denken, das sei kompliziert: Das ist noch nichts gegen die Versetzung eines Hauses auf dem Wasserweg, auch das auf Chiloé nicht unüblich: Zuerst muss das Haus auf klassische Weise zum Strand transportiert werden, wo es dann bei Ebbe mit Bojen vertäut oder auf ein Floß gehievt wird. Kommt dann die Flut, wird das Haus von Booten an seinen Bestimmungsort gebracht, wo es dann wiederum von Ochsen an seinen endgültigen Standpunkt gezogen wird.
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Erst die Arbeit, dann das Vergnügen
Klar, dass nach solcher Schwerstarbeit ordentlich gefeiert wird, und zwar einerseits mit traditionellem Essen und viel Alkohol, aber auch mit Musik und Tanz, was sich alle Helfer dann auch redlich verdient haben – eine solche „Minga“ kann mehrere Tage dauern. Der Anblick der wandernden Häuser ist heutzutage aber eine Seltenheit, und zieht auch deshalb immer öfter Touristenscharen an. Die Einheimischen fürchten deshalb um ihre Tradition, denn natürlich könnten solche „Mingas“ zukünftig auch ausschließlich für Touristen abgehalten werden, um damit Geld zu verdienen. Zumal es Pläne gibt, die Insel über eine Brücke mit dem nahen Festland zu verbinden.
Sehen Sie hier eine traditionelle „Minga“ im Video: