11. Dezember 2017, 18:10 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Varanasi ist Indiens heiligste Stadt für Hindus – der Alltag in den Straßen wird vom Tod bestimmt, denn jeder Gläubige, der etwas auf sich hält, kommt hierher, um auf ihn zu warten. Als Lohn winkt nämlich die Unsterblichkeit.
Der Autor und Weltreisende Mark Twain hat einmal gesagt, Varanasi sei „älter als die Geschichte, älter als die Tradition, älter als die Legende selbst. Doch auch wenn es sich nicht wirklich um die älteste Stadt der Welt handelt, so ist eines gewiss: Varanasi ist für die Hinduisten seit jeher die heiligste Stadt in ganz Indien. Im Verlauf ihrer mehr als 2500-jährigen Existenz hatte sie schon einige Namen, darunter Kashi oder Benares, und blickt auf eine im wahrsten Wortsinne bewegte Geschichte zurück. Schon seit ihrer Gründung pilgern gläubige Hindus von überall hierher, denn Varanasi soll der Legende nach die Stadt Shivas sein, der eine der hinduistischen Hauptgottheiten ist. Ihren Weltruhm verdankt sie heutzutage aber einer anderen Tatsache: Varanasi ist Indiens Stadt des Todes.
Der Grund ist, dass so gut wie jeder gläubige Hindu versucht, hierherzukommen, um hier auf den Tod zu warten. Denn der Glaube besagt, dass man sich dadurch aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten befreien könne. Das heilige Ritual ist immer gleich: Ein Leichnam wird verbrannt und seine Asche anschließend in den Ganges verstreut, den größten Fluss Indiens, der genau wie die Stadt selbst den Hindus als heilig gilt. Die Wasser des Ganges werden auch Amrita genannt, übersetzt etwa „Nektar der Unsterblichkeit“. Durch diese Prozedur, so der Glaube, könne man ewiges Leben erlangen und ins Moksha eingehen – vergleichbar mit dem buddhistischen Nirwana.
Rund um die Uhr werden Tote verbrannt
Die Folgen allerdings sind für die Stadt weniger himmlisch, denn jeden Tag kommen Zehntausende Pilger in die Stadt, viele davon schon sterbenskrank. Auch Angehörige von Verstorbenen, die die Asche einer geliebten Person in den Ganges streuen wollen, reisen in Strömen an. Das Ziel der Pilger ist eine der mehr als 80 Ghats in der Stadt, übersetzt Ufer oder Anlegestelle. Der Name dieser steinernen Treppen leitet sich von ihrer Lage direkt am Fluss ab, und eines der berühmtesten dieser Ghats trägt den Namen Manikarnika – hier werden viele der Toten von Varanasi verbrannt. Die Feuer brennen Tag und Nacht, doch es ist nicht etwa ein Ort des Schreckens, sondern des Friedens: Für die Hindus bedeutet das Ritual gleichsam Zerstörung und Neuerschaffung.
Der Ganges zählt, natürlich nicht nur wegen der Prozedur des Asche-Verstreuens, zu einem der schmutzigsten Gewässer auf der ganzen Welt. Hinzu kommt, dass verstorbene hinduistische Kinder oder Priester aus Glaubensgründen niemals verbrannt werden – stattdessen versenkt man ihre Leichname, mit einem Gewicht beschwert, im Fluss. Schauergeschichten von wieder an die Oberfläche gespülten Leichen liest man in quasi jedem Reisebericht über Varanasi. Die indische Umweltorganisation „Clean Ganga“ hat errechnet, dass der Ganges bei Varanasi einen drastisch erhöhten Wert für Kolibakterien aufweist – mehrere zehntausend Mal so hoch wie in anderen Gewässern.
Auch interessant: Die traurigen Legenden um die heiligen Ratten des Karni-Mata-Tempels
Pushkar Lake in Rajasthan Der heilige See in Indien, dem ganz besondere Kräfte nachgesagt werden
Totenverbrennung in Nepal Wo die Luft nach Leichen riecht
51 Tage, 3200 Kilometer Die längste Flusskreuzfahrt der Welt ist gestartet
Baden in einem der schmutzigsten Gewässer der Welt
Trotzdem scheuen sich die gläubigen Hindus nicht, in Mata Ganga (Mutter Ganges) zu baden, denn auch rituelle Waschungen sind ein fester Bestandteil des Rituals fast jedes Besuchers von Varanasi. Die meisten Gläubigen tun das am Dasaswamedh Ghat, aber auf einer kompletten Pilger-Tour durch Varanasi wird insgesamt fünfmal Halt gemacht und gebadet. Ein Bad im Ganges wasche von den Sünden rein, so der hinduistische Glaube. Ursprünglich war dieses Privileg allein den Maharadschas vorbehalten, heute ist es ein Massenphänomen.
Die Prozedur sieht vor, den Körper mehrfach unter Wasser zu tauchen, um sich auf diese Weise zu reinigen. Viele Menschen kommen aber auch aus ganz weltlichen Gründen an den stark verschmutzten Ganges: um ihre Wäsche zu waschen.
Höhepunkt jedes Tages ist aber ein allabendliches Ritual, das den Göttern gewidmet ist und bei dem es jede Menge Feuer, Musik und Gesänge zu bestaunen gibt. Wer es sich leisten kann, mietet sich ein Boot und erlebt die Zeremonie vom Wasser aus.
Wahrscheinlich war es diese gehörige Portion Ethno-Romantik, die bereits in den 1970er-Jahren die ersten Hippie-Touristen nach Varanasi lockte, und dank derer heute nicht wenige Händler mit den Besuchern einträgliche Geschäfte machen.