3. August 2016, 15:22 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Samba, Fußball, Favelas, Gewalt und Körperkult – so lautet meist der Mix, der das hierzulande wahrgenommene Bild von Rio de Janeiro ausmacht. Und oft reicht auch nicht ein kurzer Urlaub in der Stadt am Zuckerhut, um sie und ihre Einwohner wirklich kennenzulernen. Denn das wahre Rio de Janeiro ist ganz anders, als viele vermuten.
Das Rio de Janeiro des deutschen Fernsehens ist ziemlich übersichtlich: Unter dem vermeintlichen Schutz einer überdimensionalen Christusstatue formieren sich Zuckerhut, zahllose Party-Strände, von Palmen überwucherte Berge und das Maracanã-Stadion, wo die Deutschen den Weltmeisterpokal abgeräumt haben. Als exotischen Wermutstropfen gibt’s noch ein paar Favelas dazu. Aber das war’s. Was die Cariocas, die Locals der Stadt, angeht, ist auch alles klar – Kategorie 1: toptrainierte Modelmenschen, die den ganzen Tag an der Copacabana feiern; Kategorie 2: fußballverrückte Straßenkinder mit Knarren auf dem Rücken. Nun, die Wirklichkeit sieht ein bisschen anders aus. Tauchen wir kurz ein in den Alltag der Cariocas.
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Ölfirmen, Affen und jede Menge Unis
Rio ist für südamerikanische Verhältnisse eine recht teure Stadt, und entsprechend hart arbeiten die Einwohner. Schon wegen der teils hohen Temperaturen ist man hier oft schon vor 7 Uhr unterwegs.
In Rio sitzen die großen Ölkonzerne wie Petrobas, und hier ist nach dem Wirtschaftsmotor São Paulo das größte Finanzzentrum Brasiliens. Täglich strömen Tausende Geschäftsleute über die Wall Street Rios, die Avenida Presidente Vargas, von den Hügeln der Favelas fahren die Cariocas mit einer Seilbahn in das Stadtzentrum, um in die Schule oder zur Arbeit zu kommen. Viele der armen Einwohner der Stadt ziehen an die Strände um Tand und Eis an die Touristen zu verkaufen, andere versuchen am großen Hafen, ihr Geld zu verdienen.
Die Avenida Presidente Vargas:
Die Schere zwischen Arm und Reich ist groß in Rio, die Luxushotels liegen hier Haus an Haus zu den Armutsvierteln. Ansonsten ist die Cidade Maravilhosa, die wunderbare Stadt, eine richtige Studentenmetropole. Das bedeutet unter anderem: ein schwieriger Wohnungsmarkt und eine riesige Auswahl an Bars und Clubs. Es gibt mehr als ein Dutzend Universitäten, zu denen die Cariocas teilweise mit der Fähre, etwa in die nah gelegene Satellitenstadt Niterói, fahren müssen.
Im Viertel Gávea liegt die PUC, eine der renommiertesten Universitäten des Landes. Im anliegenden Parque Natural Municipal da Cidade spazieren Studenten und verliebte Paare, während Affen und Eichhörnchen durch die Gegend sausen. Auch der benachbarte Tijuca-Nationalpark ist beliebt. Dort gibt es zwar mehr Touristen, dafür aber auch Wasserfälle. Die Stundenpläne der Studenten sind voll, und die Feierlaune ist groß. Das Nachtleben vor der Tür ist so vielfältig, dass sich die Entscheidung, wo man heute durch die Nacht tanzen wird, schwierig gestalten kann.
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Das neue In-Viertel Rios
Dass Lapa das größte Vergnügungsviertel von Rio ist, wissen mittlerweile auch viele Touristen. Am liebsten aber tummeln sich die hippen Carioca derzeit in der Hafenzone der Stadt, die seit Jahren mit Investitionen in Milliardenhöhe aufgewertet wird. In der Nachbarschaft von Gambôa gibt es ehemalige Lagerhallen, die zu Galerien umgestaltet wurden, Streetfood-Märkte und alternative Clubs wie die Casa da Matriz. Hier hört man die ganze Nacht über Funk, Samba und Elektro. In den Restaurants isst man übrigens nicht nur Fleisch, sondern auch Sushi. Da Hunderttausende Brasilianer japanische Wurzeln haben, haben sich die fischigen Leckerbissen im ganzen Land und natürlich auch in Rio etabliert. Die Brasilianer haben der kalten Speise allerdings ihren eigenen Touch verliehen. Oder haben Sie außerhalb schon mal von Sushi mit Walnüssen, Pirão, Maracujá und Açai-Beeren gehört?
Fitnessstudio Strand
Dann gibt es in Rio natürlich auch den Strand. Den durchschnittlichen Carioca kann man hier tatsächlich oft antreffen. Vor allem sonntags treffen sich Familien und Studenten auch an den Tourihochburgen Copacabana und Ipanema, wo die Straße für Autos dann teilweise gesperrt ist. Am Strand selbst ist Schwimmen Nebensache, auch am gemütlichen Lesen eines Buches erkennt man sofort den Nichtbrasilianer. Der Carioca kommt hierher, um Menschen zu treffen, sich zu zeigen. Manche tragen eine Art Reagenzglasständer mit einer ganzen Palette von Sonnenölen bei sich, um den Körper je nach Tageszeit und Temperatur perfekt zu bräunen. Viele sind geschminkt und aufgestylt, Männer und Frauen trinken Bier, essen Shrimps am Spieß oder Grillkäse, der von Strandverkäufern angeboten wird. Ansonsten sind die Copacabana, Ipanema und Leblon vor allem eines: riesige Fitnessstudios. Die Sportlustigen sprinten – zuweilen von Personal Trainern angeleitet – durch den Sand oder machen Klimmzüge an den überall frei herumstehenden Turngeräten und Stangen. Fußballduelle und Beachvolleymatches finden rund um die Uhr statt.
Abseits der Stadtstrände wissen die Carioca, dass es weitaus sauberere und schönere Strände zu besuchen gibt. Zwischen den großen Strandpromenaden eingequetscht ist der wunderschöne Praia Vermelha, an dem der Wellengang nicht so stark ist und man gut schwimmen kann. Die Familien tummeln sich am Praia do Leme, die Surfer am Praia Recreio am Ende des westlich gelegenen Stadtteils Barra da Tijuca. Wer es sich leisten kann, fährt nach Angra dos Reis: Hier gibt es mehr als 360 Inseln zu erkunden, die größte von ihnen ist die wunderschöne Ilha Grande.
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Zum Abkühlen in die Shoppingmalls
Wenn die Brasilianer sich vom Strandleben abkühlen wollen, gehen sie in die riesigen Shoppingmalls. Wo die US-Amerikaner sich verzückt an ihre Heimat erinnert fühlen, sind die riesigen Konsumhallen Rios für Europäer eher gewöhnungsbedürftig. Wenn man Einheimische antreffen will, ist man hier jedoch genau richtig. Shoppen und Spazieren in den klimatisierten Einkaufszentren gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen der Brasilianer. Eine Alternative zu den Malls sind die wunderschönen Feiras von Rio, die Märkte. Einen der beliebtesten findet man im zentralen Stadtviertel Gloria: Auf ihm verkaufen die Cariocas alles, von frisch gefangenen Krebsen bis zu selbst gebasteltem Schmuck.
Schön gemachte Menschen
Oft verbindet man mit Rio de Janeiro hierzulande perfekte Körper, doch die Wahrheit sieht anders aus. Cariocas essen nämlich gerne und viel, zwischen den Bikinischönheiten und den mit Öl eingeriebenen Muskelprotzen sieht man auch sehr viele übergewichtige Menschen.
Und bei vielen vermeintlich Schönen hat der Beauty-Doc nachgeholfen. Viele Cariocas schleppen eine Menge Botox und Silikon in ihren Körpern herum, oder bekämpfen das Fett am Bauch nicht mit Sport, sondern dem Absauger. Leider beginnen gerade brasilianische Mädchen auch recht früh mit chirurgischen Eingriffen: Eine Nasen- oder Brust-OP vor der Volljährigkeit ist nicht selten. Die Jugendschutzgesetze für Beziehungen mit Minderjährigen sind in Rio besonders streng, weil die Mädchen sich früh schminken und so tun, als seien sie wesentlich älter.
Regenbogen-Leben in Rio
Obwohl Brasilien sehr katholisch geprägt ist, gilt Rio de Janeiro als südamerikanische Hauptstadt der LGTB-Community. Für viele Schwule und Lesben ist der Abschnitt zwischen dem Posto 8 und 9 am Strand von Ipanema aber schon zu touristisch geworden. Mittlerweile gehen viele lieber in Richtung des Coqueirão, der größten Kokosnusspalme zwischen dem Posto 9 und 10, um am Strand zu liegen.
Angesichts der großen LGBT-Community in Rio und den Bildern von leicht bekleideten Frauen beim Karneval und der knappen Bikinis, könnte man meinen, Brasilianer seien besonders freizügig – doch das Gegenteil ist der Fall: In Brasilien gibt es eine strenge Sittenordnung. Man darf sich am Strand nicht ausziehen und erst Recht keinen Sex haben. Die Polizisten passen gut darauf auf, dass diese Regeln auch eingehalten werden.
Für intimere Momente sind die Love Motels der Stadt eine gute Ausweichmöglichkeit. Wegen ihrer verrückten Gestaltung, sind sie auch unter den Cariocas sehr beliebt: Vom Weltallszenario bis zur Mittelalter-Suite ist für jeden Geldbeutel was dabei. Es gibt sie im Luxusviertel Leblon genau wie in den Favelas.
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Kriminalität und Favelas
In die riesigen Armenvierteln, von denen manche recht friedlich, andere hochgefährlich sind, reisen seit Jahren auch viele Touristen, um „das andere Brasilien“ kennenzulernen. Brasilianer würden es vielleicht nie so direkt sagen, aber die meisten von ihnen finden den europäischen Elendstourismus ziemlich geschmacklos. Ein Carioca, der nicht aus der Favela stammt oder dort Freunde hat, würde das niemals machen.
Ansonsten gilt: Cariocas verstehen es, auf sich aufzupassen. Viele sind verwirrt, wenn sie hören, dass manche Besucher davon ausgehen, dass man in Rio an jeder Ecke erschossen werden kann. Natürlich gibt es in der Stadt auch viel Gewalt, doch findet die schon seit Langem nicht mehr an den Stränden und den großen Straßen statt. Wenn man nicht unvorsichtig ist, passiert einem hier nichts. Die wichtigsten Voraussetzungen dafür: die Kreditkarte zu Hause lassen, nachts nicht allein an verlassenen Orten unterwegs sein, ein bisschen portugiesisch lernen und die Kamera nicht allzu offensichtlich um den Hals tragen.
Rio ist eine gastfreundliche Stadt. Man muss sie sich einfach ein bisschen von den Cariocas zeigen lassen.