17. Oktober 2019, 7:19 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Natur, Oldtimer und Marihuana: Selten hat TRAVELBOOK-Autorin Louisa Wittek so viel erlebt wie während ihres Jahres in Neuseeland. Und trotz 363 Tagen im Land der Kiwis wurden die letzten zwei Wochen tatsächlich die absurdesten. Und all das nur wegen eines Meditationskurses, den ihr Freund für sie buchte…
Unser Jahr in Neuseeland neigte sich langsam dem Ende zu. Die Wanderausrüstung hatten wir bereits nach Deutschland geschickt und unser Flug nach Thailand würde in knapp drei Wochen starten. Um uns von unserem wunderbaren Jahr in Neuseeland zu verabschieden, hatte mein Freund die Idee, einen zehntägigen Vipassana-Meditationskurs zu buchen – quasi als Abschied und gleichzeitig als Neuanfang.
Vipassana ist eine buddhistische Meditationsform, die inzwischen auch im Westen viele Anhänger gefunden hat und religionsunabhängig praktizierbar ist. Ich muss zugeben, nie ein Freund von Meditation gewesen zu sein, bin mir aber sicher, dass vielen Menschen ein solcher Kurs gut tut und man dort auch einiges lernen kann – nur bin ich eben nicht der Typ dafür. Vielleicht fehlt mir die Reife, vielleicht die Ruhe. Vielleicht habe ich aber auch einfach gelernt mit den schönen und weniger schönen Erfahrungen ganz anders umzugehen. Trotz meiner kritischen Sicht habe ich mich auf die völlig neue Erfahrung eingelassen.
Zehn Tage schweigen, elf Stunden täglich meditieren und von allen Medien abgeschnitten sein. Selbst Bücher, Schreibmaterial und Stifte durften nicht in das Meditationszentrum in der Nähe von Kaukapakapa mitgebracht werden – eine hüllenlose Auseinandersetzung mit sich selbst ohne die Möglichkeit der Ablenkung stand uns bevor. Und es sollte wahrlich ein einmaliges – und ziemlich absurdes – Erlebnis werden.
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Wo der Tag um vier startet
Da standen wir nun, vor dem Eingang des Zentrums. Gleich würde mein Freund zu den Männern gehen, ich zu den Frauen, denn die Geschlechter werden streng getrennt. Nur in der Meditationshalle treffen sich alle wieder. Tag für Tag. Schweigend, alle zusammen und doch jeder für sich. Ich war ganz nervös, nicht wissend, was mich erwarten würde.
Der erste Tag des Kurses begann. Am Morgen um vier ging es los – für gewöhnlich schlafe ich zu dieser Zeit, hier weckte mich ein lauter morgendlicher Dong. Um 4.30 Uhr ging ich in die Meditationshalle, setzte mich auf mein Kissen und versuchte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Durch die Lautsprecher hallte die beruhigende Stimme des Vipassana-Lehrers Satya Narayan Goenka. Immer wieder wiederholte er die Worte „Beginn von vorn. Beginn von vorn. Mit einem ruhigen und stillen Verstand“ und erklärte unter anderem, wie man sich auf das Dreieck über der Oberlippe konzentrieren soll. Vieles wiederholte er immer und immer wieder. Es hat sich in meine Erinnerung eingebrannt, wie Goenka die Worte wieder und wieder sprach. Und es hatte tatsächlich etwas Beruhigendes, etwas Angenehmes.
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Die Tage verstrichen. Und forderten mich ziemlich! Das Schweigen, das Alleinsein, waren alles andere als einfach. Im Alltag gibt es so viel Ablenkung. Hier war Ruhe. Hier war man plötzlich allein mit seinen Gedanken. Und das war es auch, was mir während der wenigen Tage, die ich auf dem Meditationsgelände verbrachte, am meisten zusagte. Die Ruhe. Nicht das Meditieren, aber das Schweigen. Die Abwesenheit von Ablenkung, Kommunikation und Medien. Und obwohl ich die Ruhe sehr genoss, fühlte ich mich in dem Zentrum nicht ganz wohl. Vielleicht, weil ich mir ein bisschen wie eine Verräterin vorkam. Immerhin war ich in erster Linie für meinen Partner hier, nicht, weil ich eine Art von Erkenntnis erwartete. So verbrachte ich hier meine Tage: Beginnend um 4 Uhr morgens, endend um 21.30 Uhr am Abend. Dazwischen Stille.
Mein meditatives Abenteuer endet – an Tag 4
Nachdem ich drei volle Tage geschwiegen und meditiert hatte, klopfte es am Mittag des vierten Tages während der Pause nach dem Essen an meine Tür. In flüsternder Stimme sagte die Betreuerin, dass ich sie begleiten solle. Ich wurde nervös und mir gingen einige Gedanken durch den Kopf. War etwas passiert? Wurde ich womöglich rausgeschmissen? Ich folgte der Betreuerin den Weg zur Meditationshalle und sie wies mich an, zum Meditationsleiter zu gehen. Mit ruhiger Stimme fragte er mich, wie es mir hier gefallen würde. „Gut, besser als erwartet“, meinte ich flüsternd. Das Reden fühlte sich eigenartig an. Vier Tage hatte ich meine Stimme nicht mehr benutzt und hier kniete ich nun, am anderen Ende der Welt, vor einem buddhistischen Meditationsleiter. Wir redeten kurz mit leisen Stimmen, bis er mir sagte, dass mein Freund mich sehen möchte.
Da stand er, am anderen Ende der Meditationshalle. Ich war auf eine sehr verrückte Art unheimlich glücklich, ihn endlich sehen zu können, auch wenn wir ja eigentlich jeden Tag im selben Raum verbrachten. Ich versuchte normal mit ihm zu reden, aber alles fühlte sich unglaublich komisch an. Surreal, wie in einem Traum.
Ein Brief auf einer Klopapierrolle
Wir sprachen kurz in Flüstertönen und er sagte mir, dass er gerne abbrechen wolle und wie er versucht habe, mich zu kontaktieren: Er durfte nicht mit mir reden, hatte auch keinen Stift oder Zettel. Darum setzte er sich nachts auf eine Toilette, nahm sich eine leere Klopapierrolle und einen Marker (die hingen in den Duschen, damit man sich für Zeiten eintragen konnte) und schrieb mir einen Brief: „Wer hätte gedacht, dass ich dir mal einen Brief auf einer Toilettenpapierrolle schreibe. Ich finde es hier zeitweise ziemlich unheimlich. Andererseits ist das Essen ganz gut. Ich gammel hier einfach nur noch rum, aber die Zeit vergeht echt langsam. Wenn du Bock hast auf WOFen, Couchsurfing oder Pennerleben, dann können wir das auch gerne machen! Daumen hoch für bleiben, runter für gehen. P.s.: Ich liebe dich, schönes 1,5-Jähriges. Ich vermiss dich und wenn du dir den Tag auch schöner vorstellen kannst, können wir jederzeit abhauen!“ Für mich war das vielleicht nicht der poetischste, aber der schönste Brief den ich je bekommen habe.
Am nächsten Morgen versuchte er vor allen anderen in die Meditationshalle zu kommen, um den Brief auf meinen Platz fallen lassen zu können. Was ihm auch gelang. Womit er aber nicht gerechnet hatte: Dass ich den Zettel nicht sehen würde. Ich kam in die Meditationshalle und ging auf meinen Platz, setzte mich im Schneidersitz auf mein Kissen und wickelte meine Decke um meine Beine. Der Zettel, irgendwo dazwischen, fiel mir nicht auf.
Da ich den Brief nicht bemerkte, musste mein Freund zu der männlichen Ansprechperson gehen und darum bitten, dass er mit mir reden dürfe, um mit mir gemeinsam eine Entscheidung zu treffen. Diese Bitte wurde jedoch abgelehnt – man dürfe sich hier nicht sehen und schon gar nicht sprechen. Nach mehrfachem Nachfragen fasste mein Freund dann den Beschluss und forderte: Er wolle sofort gehen und möchte, dass mir jemand Bescheid gibt, woraufhin ich aus meinem Zimmer geholt wurde.
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So kam es, dass wir gemeinsam in einer Meditationshalle beschlossen, dem Schweigen ein Ende zu setzen und unsere letzten Tage in Neuseeland lieber gemeinsam verbringen wollten, anstatt getrennt in einem Raum voller fremder Menschen.
Endlich wieder frei – aber wohin nun?
Eine Mitarbeiterin des Meditationszentrums fuhr uns bis zu nächsten Straße. Dort standen wir nun. Ohne Geld, ohne Zelt und ohne eine Ahnung davon, wie es weiter gehen sollte. Als das Auto der Dame nicht mehr zu sehen war, fingen wir beide an zu lachen. Und wir konnten einfach nicht mehr aufhören. Warum? Ich weiß es nicht. Wie es weitergehen sollte? Keine Ahnung.
Wir reisten allgemein mit geringem Budget und hatten noch drei Monate Südostasien vor uns. Geld für einen Transport, geschweige denn eine Unterkunft, hatten wir nicht mehr eingeplant, da wir die kommenden Tage eigentlich noch meditieren wollten. Wir liefen also los, die Straße entlang und hoben unseren Daumen in der Hoffnung, dass ein Auto anhielt. So, wie wir es die letzten Monate so häufig getan hatten. Ein Auto nach dem anderen fuhr an uns vorbei und die Sonne knallte.
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„Rest in Peace my son“
Nach mehr als einer Stunde hielt ein ziemlich abgefuckter amerikanischer Oldtimer neben uns, am Steuer ein älterer Mann von ca. 50 Jahren. Dankend stiegen wir ein, mein Freund setzte sich nach vorn, ich nach hinten und das Auto beschleunigte. Der Mann war mir sofort sympathisch, und nach einigen Minuten fragte er meinen Freund: „Can you roll?“ Als leidenschaftlicher Tabakraucher antwortete er: „Sure.“ Und der Mann gab meinem Freund Drehzeug und Gras.
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Hier saßen wir nun, in einem Auto mit einem völlig Fremden, der entspannt ein Tütchen rauchte, während wir in seinem Oldtimer durch die unglaubliche Natur Neuseelands fuhren. Nur wenige Stunden zuvor saß ich noch schweigend in einem Raum, versuchend, mich auf den Bereich unter meiner Nase zu konzentrieren. Der Mann erzählte uns so viel. Fuhr einen Umweg, um uns mehr von Neuseeland zu zeigen. Sein Sohn war gestorben. Er erzählte nicht davon, aber die schwarze Tinte auf seinem Arm verriet es. „Rest in Peace my son“ stand auf seinem Unterarm, daneben ein Datum. Er war ein wirklich beeindruckender Mensch. „One of a kind“ wie man so schön sagt. Nicht reich, nicht berühmt, aber großartig.
Wir baten ihn, uns vor einem Geschäft abzusetzen, damit wir noch ein günstiges Zelt kaufen konnten, um die letzten Tage ein Dach über dem Kopf zu haben. Da er nicht wusste, wo es den nächsten Laden gab, hielt er kurzerhand neben einem Polizeiauto an, kurbelte das Fenster herunter und fragte die Polizisten. Dass es in dem Auto noch immer intensiv nach Gras roch, störte ihn dabei überhaupt nicht. Auch die neuseeländische Polizei war von dem Geruch wenig beeindruckt und erklärte ihm freundlich den Weg. Angekommen setzte er uns vor dem Geschäft ab, wir bedankten uns und ich wusste, dass dieser Mensch mir immer im Gedächtnis bleiben würde. So verbrachten wir unsere letzten Tage in einem viel zu kleinen Zelt in der Natur Neuseelands, mal am Strand, mal auf günstigen Campingplätzen, aber immer gemeinsam.