29. Juli 2016, 9:17 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Niemand fühlt sich wohl dabei, die passende Menge Trinkgeld abzuzählen, ganz weglassen kann man es deswegen aber auch nicht. Oder vielleicht doch? Warum von der Abschaffung des Trinkgeldes in der deutschen Gastronomie am Ende alle profitieren könnten.
Dieser unangenehme Moment, wenn die Kellnerin mit der Rechnung kommt…
Schon die Überlegung, wie viel Trinkgeld angemessen wäre, kann viele Restaurantgäste überfordern – und zwar nicht bloß diejenigen, die sich mit schnellem Kopfrechnen schwer tun. Denn sind die in Deutschland gängigen fünf bis zehn Prozent wirklich gerechtfertigt, wenn der Weißwein einen Tick zu warm war? Und: Wiegt das ein besonders freundlicher Service wieder auf?
Schlimmer noch ist es im Stammlokal, wo das Personal schon eine gewisse Erwartungshaltung angenommen hat. Beim letzten Mal hat man großzügiger aufgerundet, der krumme Geldbetrag hat das nahegelegt. Kann man jetzt nur noch mit Spendierhosen einkehren? Falls ja, sind die Besuche hier auf Dauer eine kostspielige Angelegenheit? Falls nein, die Kellner womöglich beleidigt?
Von beleidigten zu beleidigenden Kellnern. Denn: So patzig ein Angestellter sein mag – er erwartet trotzdem sein Trinkgeld. Schließlich ist es so üblich in Deutschland. Unfair bloß, dass am Ende der unfreundlich behandelte Gast der Buhmann ist, da er dem Kellner die paar Extra-Groschen verweigert: Schließlich ist dieser darauf angewiesen. Und kann der Kellner was dafür, dass in der Küche gepfuscht wurde?
„Ohne Trinkgeld geht es gar nicht“, bestätigt ein Service-Mitarbeiter der Frankfurter Kult-Gaststätte Apfelwein Wagner, der gerne anonym bleiben möchte, gegenüber TRAVELBOOK. „Unsere Löhne sind so niedrig, dass wir gerade einmal die Miete bezahlen können.“ Und ist ein Gast mal weniger großzügig? „Dann bleibe ich natürlich höflich. Wir gucken aber ganz schön in die Röhre.“
Niemand „muss“ Trinkgeld geben
Trinkgeld ist ein „Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber geschuldeten Leistung zahlt“ – so definiert es die deutsche Gewerbeordnung. Mit anderen Worten: Niemand „muss“ Trinkgeld geben, es ist ein nett gemeintes Extra.
Britta Frentzen, Assistentin des Präsidenten beim Hotel- und Gaststättenverband Berlin (DEHOGA), steht gerade deshalb hinter dem deutschen Trinkgeld-Prinzip, da es als Wertschätzung einer zufriedenstellenden Service-Leistung zu betrachten ist. Als Gast fände sie es komisch, plötzlich kein Trinkgeld mehr zu geben – und glaubt, dass es so auch den meisten anderen geht. „Und wir sind froh, dass es uns nach jahrelangem Kampf endlich gelungen ist, die Trinkgeldsteuer abzuschaffen.“ Heißt: Erst seit 2002 wird Trinkgeld nicht mehr als abgabepflichtiger Lohnbestandteil angesehen, sondern als freiwillige, zusätzliche Prämie.
Auch TRAVELBOOK-Fans reagieren verhalten
Wir haben mal auf Facebook vorgefühlt, wie TRAVELBOOK-Leser auf den Vorschlag reagieren, das Trinkgeld-Modell zu ändern. Der allgemeine Tenor war erstaunlich ablehnend: Die meisten Restaurant-Besucher geben gerne Trinkgeld – zumindest im Regelfall. „Wenn der Service schlecht war, dann gibt es auch nichts“, schreibt etwa ein Leser.
Gleich mehrere User aber räumen ein, dass der Bezahlmoment unangenehm ist. Besser, findet eine von ihnen, sei es in Spanien geregelt, wo man den Trinkgeldbetrag beim Verlassen des Lokals auf einem kleinen Teller liegen lässt, „anstatt sich ad hoc etwas überlegen zu müssen, während der Kellner dabeisteht und wartet“.
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Andere Länder, andere Regelungen
Grundsätzlich wäre wohl eine einheitliche Lösung sinnvoll, nicht zuletzt, um Verwirrung oder gar peinliche Situationen am Urlaubsort zu vermeiden. Immerhin wäre ein japanischer Gastronom schwer beleidigt, würde man ihm Extra-Groschen hinstrecken, auch in vielen skandinavischen Ländern ist Trinkgeld unüblich. Französische Kellner lassen die finanzielle Aufmerksamkeit elegant auf dem Tisch liegen, um es später, erst nach Verlassen des Gastes, diskret an sich zu nehmen. Die kulturellen Unterschiede spürt man natürlich auch in deutschen Restaurants, etwa im Frankfurter Apfelwein Wagner. Die Mitarbeiter hier wissen: „Ausländische Touristen lassen in der Regel gar nichts liegen.“
In den USA ist das vermeintlich freiwillige Trinkgeld bekanntermaßen noch etwas höher angesiedelt, dafür das Grundgehalt von Service-Personal umso niedriger. Bei einem ausbleibenden Tip mischt sich auch schon mal der Ladenbesitzer ein. Doch selbst in den USA haben erste Restaurants, zumindest in der gehobenen Kategorie, bereits den Schritt gewagt, das Trinkgeld nicht mehr dem Gast zu überlassen und stattdessen die Löhne zu erhöhen. Entsprechend gingen hier die Preise für Speisen und Getränke nach oben, nach dem subjektiven Ermessen der Geschäftsleitung.
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Hieran könnten wir uns orientieren:
Am elegantesten läuft das Trinkgeld-Tänzchen wohl in Brasilien ab. Hier gibt jeder Restaurantbesucher zehn Prozent zum Endbetrag dazu, und der Betrag wird als taxa de serviço als Servicegebühr, auf der Rechnung aufgeführt. Unzufriedenen Gästen steht es frei, den Zusatzbetrag bewusst von der Summe abzuziehen, das tut am Ende aber niemand. Wohl ein Zeichen dafür, dass sich dieses Modell bewährt hat.
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Geht das auch in Deutschland?
TRAVELBOOK erkundigte sich bei Dirk Mahler, Fachanwalt für Steuerrecht bei der Berliner Kanzlei Rose & Partner, ob eine ähnliche Regelung auch hier möglich wäre – eine Idee, die er aus steuerrechtlichen Gründen für „problematisch“ hält.
So erklärt er uns, dass die Vergabe von Trinkgeld in Deutschland eine freiwillige Leistung und als solche für das Unternehmen einkommens- und lohnsteuerfrei ist. Noch! Wäre das Trinkgeld auf welche Weise auch immer organisiert quasi ein Bestandteil des Gehalts, würde das Restaurant es direkt abrechnen und einbehalten. „In dem Fall stellt es eine Nebenleistung des Betriebes dar“, erklärt der Experte, „und unterliegt als solche der Umsatzsteuer.“
Der Konflikt betrifft auch die Gehälter, die deutsche Arbeitgeber ihren Beschäftigten zahlen und die noch lohnsteuerfrei sind. „Wenn die Freiwilligkeit der Trinkgeldzahlung durch eine neue Regelung wegfällt“ – das Trinkgeld also ein fester Bestandteil des Gehalts wird – bestünden erhebliche Bedenken, ob die Lohnsteuerfreiheit rechtmäßig wäre.
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