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Unweit von Rio de Janeiro

Ilha Grande – auf dieser Trauminsel begann Brasiliens Albtraum

Ilha Grande, Rio de Janeiro
Brasiliens organisierte Kriminalität hat ihren Ursprung auf einer der schönsten Inseln im Bundesstaat Rio der Janeiro: der Ilha Grande Foto: iStock/cesar-okada
Nuno Alves
Chefredakteur

1. Januar 2022, 8:32 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten

Lebensfreude, offene Menschen, Bilderbuchstrände: Brasilien bietet alles für eine Traumreise. Dennoch zögern viele bei dem Gedanken, Urlaub in dem südamerikanischen Land zu machen – wegen der hohen Kriminalitätsrate, unter der Brasilien leidet. Was nur wenige Europäer wissen: Brasiliens organisiertes Verbrechen hat seinen Ursprung auf einer paradiesischen Insel, 108 Kilometer Luftlinie von Rio de Janeiro entfernt. Ihr Name: Ilha Grande, die große Insel.

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Es gibt Menschen, für die käme ein Urlaub in Brasilien nie infrage. Zu groß ist ihre Angst, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Und auch wenn das von Bild von einem Land, in dem überall Gefahr droht, natürlich verzerrt ist, so bleibt eines unbestreitbar: Brasilien hat ein Kriminalitätsproblem – vor allem in den Metropolen wie São Paulo, Salvador, Porto Alegre, Belo Horizonte und natürlich: Rio de Janeiro.

Die Großstadt am Zuckerhut wies in den vergangenen Jahren eine Mordrate von ca. 20 bis 30 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohnern auf. Zum Vergleich: In Berlin sind es zwischen zwei und drei. Der Großteil der Kapitalverbrechen geht auf das Konto organisierter Drogenbanden und Milizen. In den Armenvierteln führen sie erbitterte Kriege um Rauschgift-Umschlagplätze und Macht. Der Skrupellosigkeit, mit der die Verbrecher vorgehen, fallen im Kugelhagel häufig auch unbeteiligte Bewohner der Viertel zum Opfer.

Ilha Grande – Brasiliens Alcatraz

Seinen Ursprung hat Brasiliens Albtraum der organisierten Kriminalität Ende der 1970er-Jahre, als die erste und bis heute eine der größten Verbrecherorganisationen des Landes entstanden ist: das Comando Vermelho (z. Dt.: Rotes Kommando), kurz CV genannt. Es kontrolliert derzeit mehr als die Hälfte der Armenviertel Rio de Janeiros. Der verbleibende Anteil entfällt auf zwei rivalisierende Banden und die gefürchteten, aus Ex-Polizisten und -Militärs bestehenden Milizen.

Gegründet wurde das Comando Vermelho aber nicht in einem dieser Armenviertel, sondern auf einer Insel rund 100 Kilometer Luftlinien von Rio de Janeiro entfernt. Hier, auf der Ilha Grande, befand sich jahrzehntelang das brasilianische Alcatraz: die Haftanstalt Instituto Penal Cândido Mendes, die 1940 erbaut wurde und Platz für bis zu 1000 Schwerkriminelle bieten sollte.

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Als in Brasilien 1964 schließlich das Militär an die Macht kam, änderte sich das Profil der Gefängnisinsassen jedoch schnell. Denn überall im Land begehrten die Menschen gegen das Regime auf, und einige schlossen sich in teils militanten linksextremistischen Gruppierungen zusammen. Zahlreiche dieser Regimegegner wurden verhaftet und landeten schließlich im Gefängnis auf der Ilha Grande, wo sie plötzlich auf engstem Raum mit gewöhnlichen Kriminellen lebten.

Möglich wurde dies durch das Ende der 1960er von den Militärs verabschiedete „Gesetz der nationalen Sicherheit“, das keinen Unterschied mehr machte, ob eine Straftat politisch motiviert war oder nicht. Dies sollte zum Katalysator für die Entstehung des Comando Vermelho werden.

Der „Teufelskessel“

Im sogenannten „Teufelskessel“ der Haftanstalt kam es nicht nur zu einer Art intellektuellem Austausch zwischen politischen und gewöhnlichen Gefangenen. Letztere übernahmen auch eine Art Ehrenkodex von den Linksmilitanten, die im Gefängnis einen gewissen Respekt genossen. Das bestätigt auch José Tórtima, der von Februar 1970 bis Juni 1971 als politischer Gefangener auf der Insel inhaftiert war. „Obwohl uns die Wärter nicht mochten, respektierten sie uns, weil sie uns auf gewisse Weise auch fürchteten“, sagt der in Rio lebende Anwalt TRAVELBOOK. „Wir hatten diesen Ruf als Guerilleros.“

Und er erzählt von einem Zwischenfall mit einer Gruppe gewöhnlicher Krimineller während seiner Zeit auf der Insel, der einige Regeln definieren sollte. „Der Chef einer dieser ersten Gruppen, die aus etwa 20 Personen bestand, versuchte, einen jungen Häftling, der sich bei uns aufhielt, sexuell zu missbrauchen.“ Die politischen Gefangenen verhinderten dies und richteten den Mann so zu, dass er schließlich auf dem Festland behandelt werden musste. Bei seiner Rückkehr steckte der Gefängnisdirektor ihn wegen des Akts der Päderastie dann in eine schmutzige Einzelzelle ohne Tageslicht. Das aber wollten die politischen Gefangenen nicht.

Tórtima zu TRAVELBOOK: „Wir haben dann protestiert und gefordert, ihn da herauszuholen, weil wir diese Art von Folter nicht gutheißen konnten.“ Mit Erfolg. Der Mann entging der Einzelzelle. So sei es dann zur Annäherung zwischen politischen und gewöhnlichen Gefangenen gekommen. „Dieser Tag war der Beginn dessen, was später zu einer Art Gesetz in allen Gefängnissen von Rio, vielleicht sogar Brasiliens werden sollte: dass man Mithäftlinge nicht sexuell missbraucht“, erklärt Tórtima, der später selbst Direktor einer Haftanstalt werden sollte. „Das Comando Vermelho bestraft solchen sexuellen Missbrauch heute sogar mit dem Tod.“

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Der Einfluss der politischen Gefangenen auf die gewöhnlichen Kriminellen

Das Zusammenleben im Gefängnis Instituto Penal Cândido Mendes Ende der 1960er und in den 1980er Jahren hatte weitreichende Folgen: Die bislang gar nicht oder nur kaum organisierten gewöhnlichen Gefangenen bekamen mit, wie professionell und effektiv die Mitglieder der bewaffneten linken Gruppierungen Banküberfälle und Entführungen organisierten und übernahmen für ihre kleinen kriminellen Banden die Methoden und auch einige der Strukturen. Parallel organisierten sie sich auch im Gefängnis selbst und gründeten Gruppen, um Hafterleichterungen einzufordern, den Alltag in der Haftanstalt zu organisieren und sich gegen die Drangsalierungen seitens des Gefängnispersonals zu wehren.

„Ein erstes Motiv und entscheidend für die Gründung dieser Gruppen war anfangs, Stärke zu zeigen und etwas der Gewalt des Systems entgegenzusetzen und den Misshandlungen der Wärter“, sagt José Tórtima zu TRAVELBOOK.

Eine dieser Gruppierungen war die Vorläuferorganisation des Comando Vermelho, die sogenannte Falange Vermelha (rote Falange). Sie setzte nicht nur Disziplin und Ordnung durch, sondern kontrollierte auch die Kantine, eine Gefängnisbibliothek, die Apotheke und sogar den Umlauf einer Zeitung unter den Insassen. Zudem organisierte sie Feste und gründete sogar ein Fußballteam. Für die Anhänger der Falange Vermelha stellte all das eine erhebliche Verbesserung der Haftbedingungen dar. Parallel bot die Gruppe Schutz vor der Gewalt seitens der Wärter. Das ist noch immer so, wie José Tórtima erklärt: „Heute wird kein Häftling mehr in den Gefängnissen geschlagen, weil jeder weiß, dass es draußen Vergeltung gibt.“

Ein Massaker wurde zur Geburtsstunde des Comando Vermelho

Im Gefängnis der Ilha Grande gab es Ende der 1970er jedoch nicht nur die Falange Vermelha, sondern auch weitere Gruppierungen. Im September 1979 kam es dann schließlich zu einer blutigen Machtdemonstration der „roten Falange“, die auf die Vorherrschaft in der Haftanstalt abzielte.

Die Falange Vermelha stellte den verfeindeten Gruppen ein 24-stündiges Ultimatum, das die sogenannte Falange Jacaré verstreichen ließ. Am 17. September 1979 entschied sich die rote Falange schließlich zum Angriff und stürmte mit Dutzenden Männern den Bereich der Falange Jacaré. Mit selbst gebastelten Waffen – präparierte Löffeln, Bretter mit Nägeln etc. – sorgten sie in kurzer Zeit auf blutige Weise für klare Verhältnisse im Gefängnis der Ilha Grande. Am Ende werden zehn Tote gezählt sowie Dutzende Verletzte.

In dieser frühen Phase des Comando Vermelho entstand auch die Parole der Gruppe: Paz, justiça e liberdade, was übersetzt Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit bedeutet – eine groteske Verkehrung der Realität. Die Organisation sollte für Rio und Brasilien das genaue Gegenteil bringen.

Die organisierte Kriminalität setzte sich in der Gesellschaft fest

Sowohl in den ersten Jahren nach der de-facto-Gründung des Comando Vermelho als auch danach waren viele der Bosse auf der Ilha Grande inhaftiert. Von hier aus wurde die Organisation gesteuert, wurden Morde, Überfälle und Entführungen in Auftrag gegeben sowie das Drogengeschäft aufgebaut und die Expansion vorangetrieben. Aufgrund von Insassen-Verlegungen breitete sich der CV wie ein Virus auf weitere Gefängnisse aus. Und auch außerhalb der Haftanstalten wuchs die Zahl der Anhänger, sodass die Gruppe bald auch Armenviertel in Rio de Janeiro kontrollieren sollte. Die organisierte Kriminalität verbreitete sich rasend schnell und setzte sich fest. Daran änderte auch die Deaktivierung und Zerstörung des Gefängnisses 1994 nichts.

Viele ehemals linksextreme Militante wiesen später die Behauptung zurück, sie hätten bei der Geburt des Comando Vermelho aktiv mitgeholfen. Auch José Tórtima verweist im Gespräch mit TRAVELBOOK darauf, dass bereits Strukturen existiert hätten und der Vorläufer der Organisation schon eine Führung gehabt habe. „Es kann aber sein, dass sie sich davon inspirieren ließen, wie respektvoll wir mit unseren Kameraden umgingen.“

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Nach dem Abriss des Gefängnisses kamen die Touristen

Auf den Abriss der Strafanstalt am 2. April 1994 folgte die Erschließung der Insel für Touristen. Wer heute mit dem Boot oder der Fähre von Angra dos Reis auf dem 21 Kilometer entfernten Festland auf die Ilha Grande übersetzt, spürt zunächst nichts von der Vergangenheit als Gefängnisinsel. Der Hauptort Vila do Abraão wirkt in der Nebensaison recht verschlafen. Cafés, Restaurants, Pousadas (Pensionen) und kleinere Boutiquen säumen die teils gepflasterten Wege. Autos sind auf der Insel verboten. Auch einen Geldautomaten oder eine Bank sucht man auf der Ilha Grande bis heute vergeblich. „Wir hatten das mal“, erzählt ein Einwohner. „Dann gab es einen Überfall und wir haben ihn wieder abgebaut.“ Problem gelöst.

Insgesamt hat die Insel etwa 5000 Einwohner, von denen viele noch vom Fischfang leben. Der Tourismus ist aber mittlerweile eine der wichtigsten Einnahmequellen. Trotz der Urlauber achten die Einwohner sehr darauf, ihre Insel zu schützen.

Vom ehemaligen Gefängnis sind nur ein paar Ruinen geblieben. Die Fassade wurde erhalten. Sie ist heute Teil eines Museums, das 2009 eröffnet wurde und die Geschichte der Haftanstalt beleuchtet.

Fassade des einstigen Instituto Penal Cândido Mendes, Ilha Grande
Heute stehen nur noch die Ruinen des Gefängnisses. Im Foto: die Fassade des einstigen Instituto Penal Cândido Mendes Foto: iStock/R.M. Nunes

Für Interessierte werden mittlerweile geführte Touren angeboten, bei denen man die Anlage sowie weitere Überreste früherer Anlagen besuchen kann. Dazu zählt auch ein Lazarett aus dem 19. Jahrhundert, in dem u. a. an Cholera erkrankte Einwanderer untergebracht wurden. Ein Lost Place im brasilianischen Insel-Dschungel.

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Warum wird die Ilha Grande „große Insel“ genannt?

Der Name geht auf die einstigen Bewohner zurück: die Tamoios. Dieser indigene Stamm taufte die Insel Ipaum guaçú. Übersetzt aus dem Tupi, das damals an weiten Teilen der brasilianischen Küste gesprochen wurde, bedeutet dies: große (guaçú) Insel (ipaum). Tatsächlich ist die Ilha Grande unter den fast 400 Inseln der Umgebung die größte.

Wetter und beste Reisezeit für einen Besuch auf der Ilha Grande

Wer keinen Trubel möchte, vermeidet am besten die Hauptsaison von Dezember bis März und brasilianische Feiertage. Am besten geeignet für einen Ilha-Grande-Trip sind die Monate April bis Juni. Dann ist es – abgesehen von möglichen Osterwochenenden – relativ ruhig; zudem regnet es in dieser Zeit nicht so häufig wie in der Hauptsaison.

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Strände und Sehenswürdigkeiten auf der Ilha Grande

22 Strände verzeichnet die offizielle Seite der Ilha Grande auf ihrer Karte. Doch es gibt natürlich viel mehr, fast 100. Besonders schön:

  • Dois Rios (direkt am abgerissenen Gefängnis)
  • Praia de Lopes Mendes (der berühmteste Strand der Insel und einer der schönsten Brasiliens)
  • Praia do Aventureiro
  • die Strände der Enseada das Estrelas
  • Praia do Caxadaço (viele behaupten, das sei der schönste Strand der Insel)
  • Praia do Bananal
Praia de Lopes Mendes auf der Insel Ilha Grande in Brasilien
Einer der schönsten Strände Brasiliens liegt auf der Ilha Grande: der Praia de Lopes Mendes Foto: Mauritius Images

Neben Stränden bietet die Ilha Grande auch weitere Sehenswürdigkeiten. Hier eine Auswahl:

  • Pico do Papagaio, mit 982 Metern die zweithöchste Erhebung der Insel. Wegen der Form auch Papageien-Gipfel genannt. Der Wanderweg bis zur Spitze gehört zu den anstrengendsten Touren der Insel.
  • Gruta do Acaiá, eine Höhle, in die Meerwasser eindringt und die bei Einfall des Sonnenlichts ein einzigartiges Farbspiel offenbart.
  • Lagoa Azul (blaue Lagune), eine Art natürliches Schwimmbecken, das perfekte Tauchbedingungen und eine reiche Fischwelt bietet.
  • Farol de Castelhanos , einer der ältesten Leuchttürme an Brasiliens Küste.
Themen Brasilien Südamerika
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